Gladbeck. . Bündnis für Courage gedachte der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Rednerin Chaja Kaufmann erzählte von ihrer jüdischen Familie.
Die Augen vieler sind blicklos zu Boden geheftet. Oder auf irgendeinen Punkt im Saal gerichtet, ohne den Raum im Dietrich-Bonhoeffer-Haus wirklich wahrzunehmen. Man könnte eine Stecknadel fallen hören, solch eine Stille herrscht. Chaja Kaufmann, 1956 im Nachkriegsdeutschland geboren, gewährt in einer Rede Einblicke in die Geschichte ihrer Familie und in ihre eigene Persönlichkeit – in die Erlebnisse von Gladbecker Juden. Kaufmann, die seit 40 Jahren in den Niederlanden lebt, erzählt von einem Alltag, in dem über Angst nicht gesprochen wird. Sie ist stets präsent wie eine „unsichtbare Jacke, und jeder hatte sie an“. Es ist auch ein Kapitel deutscher Geschichte. Das Gladbecker Bündnis für Courage hat zum Gedenken an die Befreiung des Konzentrationslagers am 27. Januar vor 70 Jahren eingeladen.
Aus der Vergangenheit lernen
Wohl jeder hier ist von seinen eigenen Gedanken gefangen. Schweifen sie in die Vergangenheit? Was mag sich just in diesem Augenblick im Kopf von Judith Neuwald-Tasbach abspielen, der Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen, der auch Gladbecker angehören? Was überlegt der Jugendliche, der vorne neben dem Klavier in Gedanken versunken sitzt?
Hoffnungsvoll blickt Bündnis-Sprecher Roger Kreft auf den vollbesetzten Saal. Etliche Stühle haben die Organisatoren hinzustellen müssen, um allen Besuchern einen Sitzplatz bieten zu können. Hier sind an diesem Dienstagabend Menschen versammelt, die nicht --wie laut Bertelsmann-Umfrage 58 Prozent der Deutschen – einen Schlussstrich ziehen wollen unter das Thema „Holocaust“.
Nur noch wenig Zeitzeugen
Wer sich hier versammelt hat, will die Erinnerung an die Gräueltaten während der Nazi-Zeit lebendig halten, um daraus zu lernen und sich gegen Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zu wehren – auch heutzutage. „Es gibt nur noch wenige Zeitzeugen, daher ist es wichtig, Zweitzeugen zu gewinnen“, sagt Bürgermeister Roland.
Menschen wie Chaja Kaufmann, die „mit gemischten Gefühlen“ ans Rednerpult tritt – statt ihrer erkrankten Schwester Ita. „Ich bin Jüdin, ich bin Tochter, ich bin Mutter, ich bin Großmutter“, stellt sich der Gast vor. Die Psychotherapeutin: „Ich bin stolz, eine Kaufmann zu sein.“ Sie erzählt in einwandfreiem Deutsch, welche Wirren und Not ihre Großeltern, die Eltern Leo und Ida erlebt haben, welche Auswirkungen deren Erlebnisse auf Chaja und Ita hatten. Der Begriff „Familie“ sei abstrakt gewesen: Verwandte waren in alle Winde verstreut. Konkret hingegen die Angst: „Ich fühlte sie.“ Und lernen mussten die Mädchen, denn: „Was im Kopf ist, kann einem niemand wegnehmen.“
Vater gelang die Flucht
Chaja Kaufmann zeigt per Computer Familienfotos. Zum Beispiel von ihrem einstigen Haus an der Horster Straße, das die Kaufmanns verlassen mussten. Dem Vater gelang – im Gegensatz zu anderen – die Flucht; die Eltern heirateten in Palästina, dem heutigen Israel. Doch der Vater konnte die Heimat nicht vergessen, er wollte zurück: „Er war ein Deutscher, ein Gladbecker.“ Er habe sich Zeit seines Lebens angestrengt, sein Elternhaus zurückzubekommen: „Er musste beweisen, dass es gestohlen worden war“. Aber er „hat den Kampf gegen Ex-Nazis verloren“. „Die Stadt Gladbeck hat sich bis heute nicht bemüht, das aufzuklären“, so die Tochter. Mittlerweile kennzeichne eine Plakette das Gebäude als Kaufmann-Haus: „Hätte mein Vater das noch erleben können . . .“
Nachdenkliche Augenblicke
Nachdenkliche Momente beherrschen diesen Abend. Reem Khalife, Gamze Vard, Ceyda Ortabas und Alina Kroma – Schülerinnen des Heisenberg-Gymnasiums – tragen Adjektive vor, die die Geschehnisse in Worte fassen sollen – und es doch nicht tun: unerträglich, unfassbar, unmenschlich. Das Quartett entzündet Kerzen, wirft Fragen auf: „Was ist Individualität?“ Im Hintergrund: an der Wand Fotos von KZ-Häftlingen. Lehrerin Dr. Carmen Giese berichtet von einer aufwühlenden Gedenkstättenfahrt mit Schülern nach Auschwitz. In einer Ausstellung entdeckte sie dort einen Koffer mit der Aufschrift „Recklinghausen“, einen Kinderschuh . . .
Mikis Theodorakis hat mit der „Mauthausen-Kantate“ den KZ-Opfern ein musikalisches Denkmal gesetzt: Der Chor „Die Untertanen“ besingt anrührend unter Leitung von Rüdiger Schrade-Tönnißen die „Mädchen von Auschwitz, Dachau“ und anderen Lagern – eines von mehreren jüdischen Liedern in dieser Veranstaltung. Und musikalisch beendet Chaja Kaufmann ihre Rede. Sie spielt das gefühlvoll gesungene jüdische Kol-Nidre-Gebet ab: „Es erinnert mich an meinen Vater, er war auch Kantor.“ Und auch wenn wohl die wenigsten ein Wort verstehen: Ergriffen sind alle.