Hamburg. Neues Wahlrecht verschärft vor Bundestagswahl 2025 innerparteilichen Konkurrenzkampf. Warum Hamburgs Sozialdemokraten besonders betroffen sind.
Ganz auf der Höhe der Zeit ist die Hamburger Sozialdemokratie gerade nicht. „SPD nominiert Wolfgang Schmidt als Bundestagskandidat für Eimsbüttel“ ist auf der Website des Landesverbandes zu lesen. So weit, so gut. Kanzleramtsminister Schmidt, einer der engsten Wegbegleiter von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), tritt bei der Bundestagswahl im Wahlkreis Eimsbüttel die Nachfolge von Niels Annen an, der nicht erneut kandidiert.
Aber: Neben der Meldung ist ein Foto zu sehen, auf dem die aktuellen fünf Hamburger SPD-Bundestagsabgeordneten, darunter auch Annen, für ein Selfie freudig in die Handy-Kamera blicken. Nur Wolfgang Schmidt, um den es eigentlich geht, fehlt. Im Journalismus spricht man in solchen Fällen von einer Text-Bild-Schere.
Bundestagswahl 2025 aus Sicht der SPD Hamburg: Warum jetzt alles sehr schnell gehen muss
Nun ist der kleine Lapsus eine für das Wahlergebnis unerhebliche Marginalie, aber vielleicht doch symptomatisch für die aktuelle Lage bei der Hamburger SPD. Die Sozialdemokraten sind vom Bruch der Ampelkoalition und den nun voraussichtlich auf den 23. Februar vorgezogenen Neuwahlen des Bundestages ziemlich überrumpelt worden. Jetzt muss alles sehr schnell gehen.
Anders als zum Beispiel CDU und Grüne, die ihre Bundestagskandidaten für die Wahlkreise und die Landesliste längst nominiert haben, hatte die SPD ursprünglich angesichts des regulären Wahltermins im September 2025 geplant, ihre Bewerber und Bewerberinnen erst im Frühjahr 2025 zu nominieren, nach der Bürgerschaftswahl am 2. März.
Hamburger SPD will Landesliste für Bundestagswahl 2025 am 10. Dezember aufstellen
Immerhin sind die Direktkandidaten in den sechs Wahlkreisen mittlerweile nominiert: neben Schmidt die bisherigen Abgeordneten Aydan Özoguz (Wandsbek), Dorothee Martin (Nord/Alstertal), Falko Droßmann (Mitte) und Metin Hakverdi (Harburg/Bergedorf). Neu im Rennen ist der Altonaer SPD-Kreisvorsitzende Sören Platten als Altonaer Direktkandidat im früheren Wahlkreis von Olaf Scholz. Die Landesliste wollen die Sozialdemokraten am 10. Dezember aufstellen.
Es verspricht eine ausgesprochen spannende Sitzung des Landesvorstandes am Abend zuvor und ein ebensolcher Parteitag zu werden, denn der Reihenfolge der Namen auf der Liste kommt eine erheblich größere Bedeutung zu als in den vorangegangen Bundestagswahlen. Das liegt vor allem am neuen Wahlrecht und den desaströsen bundesweiten Umfragewerten, aber ein wenig auch an der Personalkonstellation.
Bundestagswahl 2025: Nach Wahlrechtsreform gibt‘s keine Überhang- und Ausgleichsmandate mehr
Um zu ermessen, wie ernst die Lage für die Hamburger SPD ist, lohnt ein Blick darauf, woher die Partei kommt. In der traditionell sozialdemokratisch geprägten Stadt war es stets das Wahlziel der Partei bei Bundestagswahlen, alle sechs Wahlkreise direkt zu gewinnen. Das gelang 2021 zwar nicht mehr, Altona und Eimsbüttel gingen an die Grünen-Abgeordneten Linda Heitmann und Till Steffen. Aber mit vier direkt gewählten Abgeordneten und einem zusätzlichen Überhangmandat, das an Niels Annen ging, sah das Ergebnis doch recht freundlich aus.
Bei der Bundestagswahl Anfang 2025 wird es nach der Wahlrechtsreform keine Überhang- und Ausgleichsmandate mehr geben. Und noch wichtiger: Ein direkt gewonnener Wahlkreis führt nicht mehr automatisch zu einem Bundestagsmandat. Künftig entscheidet das Zweitstimmenergebnis darüber, wie viele Abgeordnete eine Partei ins Parlament entsendet.
SPD Hamburg: Diese Grundregel ist bei der Bundestagswahl 2025 außer Kraft gesetzt
Schon immer klaffte bei der Hamburger SPD eine Lücke von mehreren Prozentpunkten zwischen dem besseren Erststimmen- und dem schwächeren Zweitstimmergebnis – eine Lücke, die bisweilen ausreichte, um einen Wahlkreis zu gewinnen. Dieser Mechanismus, der im Wahlkreis beliebte und anerkannte Kandidierende „belohnte“, ist nun jedenfalls als Grundregel außer Kraft.
Nach dem neuen Wahlrecht werden die einer Partei nach Zweitstimmen zustehenden Mandate zunächst auf die Kandidierenden verteilt, die in den Wahlkreisen vorne liegen. Hat eine Partei vier Wahlkreise gewonnen, aber ihr stehen nur drei Mandate zu, ziehen die drei Wahlkreisbewerber mit den höchsten Prozentanteilen an Erststimmen in den Bundestag ein.
Der oder die vierte Kandidierende geht leer aus. Liegt eine Partei in weniger Wahlkreisen vorn, als ihr Mandate nach Zweitstimmen zustehen, kommt die Landesliste zum Zug. Ohne einen ersten Platz im Wahlkreis greift wie bisher auch ausschließlich die Liste.
Wahlsystem könnte innerparteiliche Geschlossenheit schwächen und Egoismus fördern
Das führt zu einer kuriosen und bislang so nicht gekannten Konkurrenzsituation unter Parteifreunden während des Wahlkampfes. Motto: Je schlechter die anderen Direktkandidaten der eigenen Partei in ihren Wahlkreisen abschneiden, desto größer werden die eigenen Erfolgschancen.
Oder um es noch deutlicher zu formulieren: Setzt sich ein CDU-Kandidat in Wahlkreis A gegen seine Konkurrentin von der SPD durch, erhöht das indirekt die Chancen des SPD-Kandidaten in Wahlkreis B. Schon von der Schwächung eines Parteifreundes in dessen Wahlkreis kann man als Bundestagskandidat profitieren. Ob dieses Wahlsystem die innerparteiliche Geschlossenheit nicht eher behindert und stat dessen den Egoismus befördert, steht dahin.
Vor Bundestagswahl 2025: Aktuellem Bundestag gehören 16 Hamburger Abgeordnete an
Zurück zur politischen Praxis: Dem aktuellen Bundestag gehören 16 Hamburger Abgeordnete an, von denen 13 „regulär“ und drei weitere über die inzwischen abgeschaffte Überhang- und Ausgleichsregelung ihr Mandat erhalten haben (je eine/r von SPD, CDU und Grünen).
Da die festgelegte Zahl von Bundestagsabgeordneten von 598 auf 630 erhöht wurde, kann Hamburg darauf hoffen, statt 13 im kommenden Jahr 14 Abgeordnete in den Bundestag zu entsenden. Ob das so geschieht, hängt aber vom Gesamtergebnis und vom Ergebnis der Hamburger Parteien im Verhältnis zu den Schwesterparteien in den anderen Bundesländern ab.
Bundestagswahl 2025: Mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht aussichtsreiche neue Partei auf der Bühne
Nach einer aktuellen Musterberechnung der Bundeswahlleiterin Ruth Brand hätten Hamburg 14 Mandate (statt 16) auf der Basis des Ergebnisses von 2021 zugestanden, wenn das neue Wahlrecht damals schon gegolten hätte: jeweils vier Mandate für SPD und Grüne, je zwei für CDU und FDP sowie je ein Mandat für AfD und Linke.
Gut drei Jahre später ist die politische Welt allerdings eine völlig andere. Nicht nur, dass mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht eine neue Partei aussichtsreich die Bühne betreten hat, vor und auch nach dem Aus der Ampelkoalition befinden sich deren Parteien SPD, Grüne und FDP im Umfragetief.
Abendblatt-Umfrage zu Bundestagswahl 2025: SPD landet nur auf Platz drei
Um bei der SPD zu bleiben: Vor gut drei Jahren holte deren Spitzenkandidat Olaf Scholz 25,7 Prozent der Zweitstimmen. Die SPD wurde stärkste Kraft vor der Union und Scholz Bundeskanzler. Aktuell dümpelt die Partei in Umfragen bundesweit zwischen 14 und 15 Prozent.
Und auch in der SPD-Hochburg Hamburg tut sich Erstaunliches: Bei der jüngsten Abendblatt-Umfrage zur politischen Stimmung in Hamburg Anfang November landete die SPD bei der Frage nach der Präferenz für die Bundestagswahl lediglich auf Rang drei. Vorne lag die CDU mit 25 Prozent, gefolgt von den Grünen mit 22 Prozent und der SPD mit 21 Prozent. Eine Momentaufnahme, sicher, aber genug, um hiesige Sozialdemokraten zu verunsichern, auch wenn viele darauf hoffen, dass der Scholz-Zug noch einmal wie 2021 an Fahrt aufnimmt.
Aktuell wird Hamburgs SPD nur in zwei Wahlkreisen zugetraut, ein Direktmandat zu gewinnen
Puren Horror verheißt den Sozialdemokraten bundesweit der Blick auf die Seiten des Portals „wahlkreisprognose.de“, die Abgeordnete und Kandidaten zur Orientierung gern nutzen. Nach der aktuellen Analyse des digitalen Dienstleisters, der demoskopische Trends, frühere Ergebnisse, Milieubindung, Mobilisierung und so weiter zusammenführt, kann die SPD bundesweit gerade einmal sechs (!) Direktmandate in den 299 Wahlkreisen gewinnen. Immerhin zwei davon liegen in Hamburg, wenn auch nur mit knappem Vorsprung: Falko Droßmann in Hamburg-Mitte und Metin Hakverdi in Bergedorf-Harburg, die ihre Wahlkreise auch 2021 mit 33,2 Prozent (Droßmann) und 39,3 Prozent gewonnen hatten.
Laut „wahlkreisprognose.de“ würden Wandsbek und Nord/Alstertal nach jetzigem Stand knapp an die CDU gehen. In Wandsbek hatte 2021 Aydan Özoguz mit 38,7 Prozent die Nase vorn, in Nord/Alstertal war es ihre Parteifreundin Dorothee Martin mit 30,7 Prozent.
Die beiden weiteren Wahlkreise, Altona und Eimsbüttel, sieht das Analyseportal weiterhin knapp bei den hier seit Langem starken Grünen mit Linda Heitmann und Till Steffen. Angesichts der engen Abstände zwischen den Kandidaten von SPD, Grünen und CDU gewinnen die Landeslisten umso größere Bedeutung.
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Bundestagswahl 2025: Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt soll auf der SPD-Landesliste „abgesichert“ werden
Und so versucht sich der SPD-Landesvorstand, der dem Landesparteitag einen Listenvorschlag vorlegen wird, gewissermaßen an der Quadratur des Kreises. Geht es nach dem „Amtsalter“, dann wäre die Reihenfolge schnell geklärt: Aydan Özoguz gehört dem Bundestag seit 2009 an und würde damit wie 2021 auf Platz eins antreten. Das wäre auch ihrem Posten als Vizepräsidentin des Bundestages angemessen. Auf Platz zwei würde Metin Hakverdi (seit 2013 im Bundestag) folgen, sodann Dorothee Martin (seit 2020) und Falko Droßmann (seit 2021).
Doch die Anciennität der Abgeordneten galt schon 2021 nicht als Richtschnur. Außerdem lässt die Rechnung den Newcomer Wolfgang Schmidt außen vor, der als Kanzleramtsminister eine der Berliner Schlüsselfiguren ist. Schmidts Wahlkreis Eimsbüttel ist aber eine der Hochburgen der Grünen, sodass es ein knappes Rennen zwischen Schmidt und Till Steffen werden dürfte, Ausgang offen.
Eimsbütteler SPD-Wahlkreiskandidat 2021 war Niels Annen, parlamentarischer Staatssekretär im Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Deswegen fanden es etliche Sozialdemokraten eine gute Idee, wenn Schmidt wie Annen 2021 nach Aydan Özoguz auf Listenplatz zwei antreten würde, der ihm damals den Einzug in den Bundestag sicherte, nachdem er im Wahlkreis denkbar knapp hinter Steffen gelandet war.
Bundestags-Vizepräsidentin Aydan Özoguz nach israelfeindlichen Post in die Kritik geraten
„Wir werden Wolfgang Schmidt auf der Liste absichern. Wir brauchen ihn in Berlin“, sagte der SPD-Landesvorsitzende Nils Weiland dem Abendblatt am Randes des SPD-Landesparteitages zum Wahlprogramm am Wochenende. Dabei bleibt allerdings offen, was angesichts der vielen Unwägbarkeiten genau unter „absichern“ zu verstehen ist.
Längst nicht alle SPD-Kreisverbände sind damit einverstanden, dass Schmidt, dessen Arbeits- und Lebensmittelpunkt seit Jahren Berlin ist, gewissermaßen per Express weit vorn auf der Landesliste platziert wird. Schmidt selbst hält sich zurück und verweist gegenüber dem Abendblatt darauf, dass die Entscheidung in den Händen der Landes- und Kreisvorsitzenden liege.
Der „Einbau“ von Scholz‘ Intimus Schmidt in die Listenhierarchie ist nicht das einzige Problem. Aydan Özoguz ist nach einem israelfeindlichen Post in die Kritik geraten. Ihre Nominierung zur Direktkandidatin in ihrem Heimatkreisverband Wandsbek fiel mit 74 Prozent Zustimmung denn auch relativ schwach aus. Auch Özoguz äußert sich nicht dazu, ob sie wieder auf Listenplatz eins kandidieren will. Ganz anders Dorothee Martin. „Ich werde mindestens auf Platz drei kandidieren wie auch 2021“, sagt die Abgeordnete des Wahlkreises Nord/Alstertal.
Die SPD-Satzung legt eine Quotierung fest, aber nicht, ob ein Mann oder eine Frau auf Platz eins steht
Erstmals auf einem Listenplatz will auch der Mitte-Abgeordnete Falko Droßmann kandidieren, wie er dem Abendblatt sagte. Vor dreieinhalb Jahren hatte der frühere Mitte-Bezirksamtsleiter darauf noch verzichtet. „Meine Top-Priorität liegt auf dem Wiedergewinn meines Wahlkreises Harburg-Bergedorf-Wilhelmsburg. Auf der Landesliste werde ich dem Vorschlag des Landesvorstands folgen“, sagt Metin Hakverdi.
Es dürfte also eng werden auf den vorderen Rängen. Übrigens: Die SPD-Satzung legt zwar eine Quotierung der Plätze fest: Männer und Frauen müssen sich in der Reihenfolge abwechseln. Die Satzung legt aber nicht fest, ob der Name eines Mannes oder einer Frau auf Platz eins steht. Beides ist möglich ...