Hamburg. Bundesverfassungsgericht erlaubt Abschaffung von Überhang- und Ausgleichsmandaten. Parteien verlieren rechnerisch Siebtel ihrer Sitze.
Die Bundestagswahl 2021 endete aus Hamburger Sicht mit einem erneuten Rekord: Der Stadtstaat schickte 16 Abgeordnete wie bereits 2017 nach Berlin, nie waren es mehr. Allerdings war auch der Bundestag mit 736 Parlamentariern aufgrund einer enorm gestiegenen Zahl von Überhang- und Ausgleichsmandaten der größte seiner Geschichte. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das die Wahlrechtsreform der Ampel-Koalition jetzt in einem wesentlichen Punkt für verfassungsgemäß erklärt hat, wird zu einer deutlichen Verringerung des Bundestages auf 630 Mandate nach der Wahl im September 2025 führen. Auch Hamburg wird weniger Abgeordnete nach Berlin schicken.
Alle Parteien müssten auf der Basis des Ergebnisses der Bundestagswahl von 2021 damit rechnen, rechnerisch auf rund ein Siebtel ihrer Abgeordneten zu verzichten. Das dürfte dazu führen, dass der jeweils letzte (oder einzige) Platz auf der Liste wackelt. Aktuell sitzen im Bundestag fünf Hamburger Abgeordnete der SPD, vier der Grünen, drei der CDU, zwei der FDP sowie jeweils einer der Linken und der AfD. Für die SPD zog Niels Annen, parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, über ein Ausgleichsmandat, das es künftig nicht mehr geben wird, in den Bundestag ein. Der 51 Jahre alte Sozialdemokrat hat bereits angekündigt, nicht erneut für den Bundestag kandidieren zu wollen. Entscheidend für die Sitzverteilung ist in Zukunft ausschließlich die Zahl der Zweitstimmen, die eine Partei erringt. Das kann bedeuten, dass nicht alle Politiker, die einen Wahlkreis per Erststimme gewonnen haben, auch tatsächlich in den Bundestag einziehen.
Wahlrecht Bundestag Für Grünen-Abgeordneten Steffen ist Urteil „großer Erfolg“
„Die Verkleinerung des Bundestages ist ein großer Erfolg, den wir gegen den erbitterten Widerstand der CSU durchgesetzt haben. Rechtzeitig für die nächste Bundestagswahl haben wir Klarheit. Die Entscheidung schafft Stabilität für das Wahlrecht“, sagte der Hamburger Grünen-Abgeordnete Till Steffen, der Mitautor der Wahlrechtsreform ist. „Ich finde es erfreulich, dass das Gericht das Wahlrecht in seinem Kern für verfassungsgemäß erkannt hat. Der Kern ist die Maßgeblichkeit der Zweitstimme. Dadurch ist gewährleistet, dass die Zahl der Abgeordneten des Bundestages nicht anschwillt“, sagte der SPD-Landesvorsitzende Nils Weiland. „Für die Hamburger SPD bedeutet das im Ernstfall, dass sie vom Wahlrecht durch Überhang- oder Ausgleichsmandate nicht mehr so profitiert wie in der Vergangenheit, aber das ist angesichts der Vorteile der Regelung zu verschmerzen.“
„Der erhebliche Eingriff in das personalisierte Wahlrecht mag durch die Kappung verfassungskonform sein, aber ist ein verhängnisvoller Beitrag zur Politikverdrossenheit, da Wählerinnen und Wähler nicht mehr darauf vertrauen können, dass ihr Wahlkreissieger auch tatsächlich in den Bundestag einzieht“, sagte der CDU-Bundestagsabgeordnete Christoph de Vries. „Wir hätten die Verkleinerung des Bundestages auch hinbekommen durch eine Verringerung der Zahl der Wahlkreise, ohne dabei mit den Grundsätzen des seit 1949 in Deutschland bewährten Wahlrechts zu brechen. Aber dies war von der Ampel nicht gewollt.“
Christoph de Vries (CDU) spricht von „verhängnisvollen Beitrag zur Parteienverdrossenheit“
Die zweite Säule des Wahlrechts der Ampel-Koalition – die Abschaffung der Grundmandatsklausel – hat das höchste Gericht dagegen für verfassungswidrig erklärt. Damit wird es weiterhin möglich sein, dass Parteien in der Stärke ihres Zweitstimmenergebnisses in den Bundestag einziehen, auch wenn sie die Fünfprozenthürde verfehlen, aber mindestens drei Direktmandate erzielen. Davon hatte 2021 die Linke profitiert. Gegen die Abschaffung der Grundmandatsklausel hatten die Linke und die CSU geklagt, die zuletzt die Fünfprozenthürde nur knapp überschritten hatte.
Aus Hamburger Sicht betrifft die nun fortbestehende Regelung allenfalls die Linke. „Das Thema Grundmandatsklausel sollte man sich in Ruhe anschauen. Von Schnellschüssen vor der nächsten Bundestagswahl rate ich ab“, sagte Grünen-Politiker Steffen. Weniger gelassen reagierte Steffens CDU-Abgeordnetenkollege de Vries. „Es ist gut, dass das Bundesverfassungsgericht dem Versuch der Ampel, einen politischen Konkurrenten mithilfe des Wahlrechts auszuschalten, einen Strich durch die Rechnung gemacht hat“, sagte der Christdemokrat. „Die verfassungswidrige Streichung der Grundmandatsklausel hätte zur Folge haben können, dass Millionen Wählerstimmen unter den Tisch fallen können. Das kann kein echter Demokrat wollen“, sagte de Vries.
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Allerdings haben die Karlsruher Verfassungsrichter dem Bundestag aufgegeben, das Wahlgesetz in einem zentralen Punkt zu überarbeiten. Bis das geschehen ist, soll die Grundmandatsklausel weiter gelten. Nach Ansicht der Richterinnen und Richter verstößt die Fünfprozenthürde in ihrer jetzigen Form gegen die Verfassung. „Durch sie (die Fünfprozentsperrklausel, die Red.) werden Parteien, die nach ihrem Zweitstimmenergebnis rechnerisch Bundestagssitze erhalten könnten, bei der Sitzverteilung nicht berücksichtigt, wenn sie im Bundesgebiet weniger als fünf Prozent der gültigen Zweitstimmen erreicht haben. Dies ist eine Ungleichbehandlung gegenüber Wahlstimmen für Parteien mit einem höheren Zweitstimmenergebnis“, heißt es in einer Erklärung des Gerichts zum Urteil.