Harburg. Eine Ausstellung in Harburg versammelt vergessene Orte in Hamburg und der Welt. Aber geht das überhaupt in einem Museum? Ein Ortsbesuch.

Dass es am Hamburger Hauptbahnhof auch Tunnel gibt, die Fahrgäste nicht etwa in einen anderen Stadtteil, sondern vielmehr auf Zeitreise in die Vergangenheit schicken, ist vielen Hamburgerinnen und Hamburgern vielleicht gar nicht bekannt. Möglicherweise haben diejenigen, die auf dem Weg zur Arbeit die U2 nehmen, einmal durch die Absperrung gelugt. Zwei Tunnel wurden 1968 gebaut, durch die noch nie eine U-Bahn fuhr. In einem der Geistertunnel laden Plakate noch zu Zirkusvorstellungen und Tanzkursen ein, die zu der damaligen Zeit stattfanden. Außerdem kündigt man hier die Eröffnung des Kaufhauses Horten in der Mönckebergstraße an. Wer sich für Hamburgs Geschichte interessiert, dem geht das Herz auf.

Lost Places Ausstellung in Hamburg: Da springt direkt das Kopfkino an

Bald könnten diese beiden Tunnel allerdings tatsächlich Nutzen erlangen – und zwar im Zuge des Projekts U5. Nicht zuletzt aus diesem Grund lohnt sich ein Blick in die aktuelle Ausstellung im Archäologischen Museum in Harburg. Denn sie versammelt sagenumwobenen Orte Hamburgs, aber auch anderer Regionen auf der Welt, die uns an zurückliegende Zeiten oder entfernte Lebensumstände erinnern.

Dr. Michael Merkel, Kurator der Ausstellung „Lost Places“ im Archäologischen Museum in Harburg, faszinieren die Lost Places auch als Freiräume für Kunst. © Helena Davenport | Helena Davenport

„Lost Places“ ist ein persönliches Steckenpferd des Kurators Dr. Michael Merkel. „Was heute ein Lost Place ist, ist morgen Archäologie“, führt er in das Thema ein. Wer die Ausstellungsräume betritt und einen Blick nach oben wagt, findet sich plötzlich unter dem Gerippe des ehemaligen Schweriner Kurhotels Zippendorf wieder: Das, was von seinem Dach noch übriggeblieben ist, ist auf einem großformatigen Foto an der Decke des Harburger Museums zu sehen. Wer mag hier abgestiegen sein, als die Ruine noch Hotel war? Wie mag es hier gerochen haben? Seit 1990 steht das Gebäude leer und ist über die Jahre ebenfalls zu einem Lost Place geworden.

Nur wenige Klicks sind notwendig, um herauszufinden, dass das Kurhotel Zippendorf am Ende des Zweiten Weltkrieges auch als Lazarett diente. Danach erholten sich dort Menschen, die Konzentrationslagern entkommen waren. Die traurige Historie ist es, die dem Ort seine Spannung verleiht, eine tragische Form von Lebendigkeit, die anziehend wirken kann.

Die großzügigen Fenster vieler Ruinen eröffnen Träume

Die Hamburger Orte versammelt die neue Schau gleich im ersten Ausstellungsraum. Da wären etwa ein längst vergessener Waschraum in der Bunkeranlage an der S-Bahnstation Harburg-Rathaus, oder das Mausoleum auf dem Ohlsdorfer Friedhof, das „Restaurant Randel“ an der Poppenbüttler Landstraße oder ein verlassenes Bauernhaus direkt hinterm Deich in Bergedorf.

Der bekannteste Harburger Lost Place ist wohl die New-York Hamburger Gummi-Waaren Compagnie am Harburger Binnenhafen, die die Ausstellung gleich zu Beginn in ihr Zentrum rückt. Eine hinterleuchtete Fotoinstallation führt die Museumsgäste in die Vergangenheit des Hamburger Stadtteils zurück.

Die New-York Hamburger Gummi-Waaren Compagnie (NYH)
Vermutlich Harburgs bekanntester Lost Place: Innenansichten der ehemaligen New-York Hamburger Gummi-Waaren Compagnie. © Archäologisches Museum Hamburg | Archäologisches Museum Hamburg

Bei der Harburger Gummifabrik sind es – wie bei einigen anderen beliebten Lost Places auch, die einem im weiteren Verlauf der Ausstellung begegnen – die großzügigen Fenster, die von Fotografen in Szene gesetzt wurden. Sie machen den Charme des Gebäudes aus. „Licht war damals ein teures Gut, also baute man lichtdurchflutete Fabrikationsgebäude, um nicht für weitere Lichtquellen sorgen zu müssen“, sagt Merkel.

Heute ist es anders, wer kann sich schon – unter Beachtung von Energieeffizienz – derart große Fenster leisten? Beim Betrachten der Fotos träume man sich dann direkt in die Serie „Ally McBeal“ hinein, findet Merkel, und wünsche sich dann, selbst auch in einem derartigen Loft zu arbeiten.

In Beelitz-Heilstätten wurde aus dem Interesse am Lost Place ein Geschäftsmodell gemacht

Merkel interessiert sich schon eine ganze Weile für die vergessenen Orte in seiner Umgebung, aber auch in weiter Ferne. Seine Ausstellung führt Besucherinnen nach Detroit, in der ganze Quadratkilometer mit brachliegender Industrie von der Zeit der boomenden Autoherstellung berichten, nach Tschernobyl oder nach Beelitz-Heilstätten in der Mittelmark in Brandenburg, wo aus dem Interesse für den Lost Place ein Geschäftsmodell erwachsen ist.

Der Kurator kennt die Szene der Fotografen, Entdeckerinnen und Street-Art-Künstler, die es zu „Urban Explorations“, kurz „Urbexing“ antreibt. Die entweder einen ruhigen Ort für das Ausüben ihrer Kunst suchen, die auf Spurensuche sind oder schlicht den morbiden Charme der verlassenen Orte einfangen möchten.

Waschraum in der Bunkeranlage in der S-Bahnstation Harburg-Rathaus
Zeitkapsel: Der vergessene Waschraum in der Bunkeranlage der S-Bahnstation Harburg-Rathaus. © Archäologisches Museum Hamburg | Archäologisches Museum Hamburg

Merkel weiß aber natürlich auch um die Bedenken, für das Betreten von verlassenen Orten belangt zu werden, weswegen die meisten der Fotografinnen, deren Arbeiten in der Ausstellung gezeigt werden, nicht namentlich erwähnt werden. Wobei es in der Szene auch einen Ehrenkodex gebe, betont der Kurator: Man besuche den Ort, verändere ihn aber nicht.

Street-Artists beleben die verwaisten Orte oder hinterlassen Kommentare

Acht Fotografien von den insgesamt 110 Bildern, die die Harburger Schau versammelt, stammen aus dem Buch „Lost Places“, das Fotos und Texte vereint, die in der Hamburger Morgenpost erschienen sind. Außerdem hat Dr. Michael Merkel mit dem Verein Urbane Kunst zusammengearbeitet.

Einige Street-Art-Künstler, die in der Harburger Ausstellung vertreten sind, hauchen dem jeweiligen Lost Place mit ihrer Kunst auf humorvolle Art und Weise neues Leben ein: Jemand hat beispielsweise einem verwaisten Waschbecken mit Spraydose Spiegel und Zahnputzbecher hinzugefügt. Andere künstlerische Kommentare sind politischer wie etwa der Spruch „I want to believe that one day The world would be better“ in einer ehemaligen Villa Mussolinis.

Mehr Lost Places in Hamburg

Auch Videos gibt es in der Harburger Ausstellung zu sehen. Schließlich gibt es noch diejenigen Explorer, die den Gruselmoment aufspüren möchten. Wer im Netz nach Lost Places sucht, stößt auch schnell auf meist wacklig gedrehte Videos, die durch dunkle Gemäuer führen.

Und dann wären da noch die Lost Places, die zu Kulissen werden. Das bekannte Flugzeugwrack auf dem Sólheimasandur in Südisland ist so ein Ort, der gern für Selbstdarstellungen unter Polarlichtern genutzt wird.

Eintauchen in die Magie des verlassenen Ortes – oder einfach nur das Chaos genießen

In der Ausstellung wird eine solche Fotografie einer Reproduktion des Gemäldes „Der Träumer“ von Caspar David Friedrich gegenübergestellt. Auch hier positioniert sich der Mensch in der Ruine, setzt dem Verfall das eigene Leben entgegen, fast ein bisschen unverschämt, möchte man meinen. Von der Magie des Ortes umgeben, schaut man zurück zu der Zeit, in der hier noch Leben war, sieht eine Haushälterin mit Kaffeetablett vorbeieilen oder ein Pärchen im Autowrack sitzen. Oder man genießt einfach nur das Chaos.

„Lost Places“, Ausstellung im Archäologischen Museum Hamburg, Museumsplatz 2 in Harburg, bis 23. März, Eintritt 8 Euro, ermäßigt 5 Euro