Harburg. Die 1833 gegründete Likörfabrik Hilke läutete ihrerzeit die industrielle Revolution in Harburg ein. Heute verrotten die Häuser.
Der leichte Geruch von Fusel und Vergärung liegt schon lange nicht mehr über dem Karnapp. Und als er es noch tat, als an der Straße, die die Südgrenze des Harburger Binnenhafens bildet, noch Schnaps gebrannt wurde, war der Binnenhafen noch ein ganz anderer. Die Gerüche fielen – ohnehin nicht stark, weil man den Alkohol ja verkaufen und nicht verdunsten wollte – zwischen Gummidämpfen der NYH, den Gammelaromen aus dem Kraftfutterumschlag und den wegen der hohen Konzentration beißenden Seifenfabriksdüften von Palmolive kaum auf. Und mittlerweile riecht seit über vier Jahrzehnten hinter den Fassaden der Hilke-Häuser nichts mehr.
Anfang der 1980er-Jahre stellte die Harburger Likörfabrik Louis C. Hilke den Betrieb ein
Anfang der 1980er-Jahre, die Quellen sind über das Jahr uneinig, stellte die Likörfabrik Louis C. Hilke den Betrieb ein. Die Markenrechte wurden in die Südheide verkauft, selbst gemaischt und destilliert hatte man schon länger nicht mehr, sondern zum Schluss en gros gekauften Alkohol hier veredelt und vertrieben. Die Schließung der Hilke-Fabrik war ein Trendsetter. So wie sie einst die erste Fabrik war, die in Harburg eröffnete, war sie nun eine der ersten, die aus dem alten Binnenhafen verschwanden, der sich ab nun zum schicken Technologiequartier wandeln sollte.
1833 wurde die Brennerei am Karnapp von Nicolaus Osterhoff errichtet. Er war damit und mit seinem Dutzend Arbeiter Harburgs erster Industrieller. Damit war die industrielle Revolution eingeläutet. Zu der Schnapsfabrik gesellten sich Ölmühlen, Petrochemie, Kautschukverarbeitung, Seifensiedereien; Maschinen-, Kessel- und Werkzeugbauer, die diese Fabriken ausrüsteten sowie parasitäre Betriebe, wie die Kraftfutterindustrie, die vermarktete, was in den Ölmühlen und beim Schnapsbrennen abfiel.
Harburg war ein verschnarchter Außenposten des Königreichs Hannover, eine kleine Festung
Als Osterhoff die Brennerei eröffnete, war Harburg ein verschnarchter Außenposten des Königreichs Hannover, eine kleine Festung an der nassen Nordgrenze. Vor den Mauern: Zweieinhalb Straßen, 5000 Bewohner. Nur 45 Jahre später hatte sich die Bevölkerung verzwanzigfacht. Diese „Bevölkerungsexplosion“ darf man sich nicht vorstellen, wie einen Chinaböller, sondern eher, wie eine Bauschaumdose, in die man aus Versehen ein größeres Loch gemacht hat. Harburg wuchs schnell und wild in viele Richtungen
Für die Brennerei war das gut. Die Kundschaft wuchs vor der Tür. Die Geschäfte liefen. Nicolaus Osterhoff vererbte den Betrieb an Sohn Heinrich, der verkaufte ihn 1893 an seinen Brennmeister Louis C. Hilke, dessen Nachname fortan ein Harburger Markenzeichen werden sollte. „Hilke‘s Alter Harburger Doppelkümmel“, „Hilke’s Pfeffermünz“, „Hilke’s Eier-Crême“ und „Hilke’s Ingber“ waren jahrzehntelang in Norddeutschlands Kneipen wohlbekannt. Die Fabrik wuchs.
Von der ursprünglichen Brennerei von 1833 ist kaum noch etwas zu sehen. Die Gebäude direkt am Karnapp, Hausnummern 15 und 16 sind jünger. Das Haus Nr. 15 wurde 1859 Heinrich Osterhoff als sein Wohn- und Geschäftshaus errichtet, Nummer 16 1899 von Hilke als Wohnhaus. Die eigentliche Brennerei liegt dahinter. Deren älteste erhaltenen Produktionsgebäude stammen aus den 1890er- und 1900er-Jahren: Das Kesselhaus von 1897 und sein Schornstein erst von 1901, wahrscheinlich errichtet, um den Dampf erst über Louis Hilkes neuem Wohnhaus abzulassen, statt dahinter.
Hilke verkaufte noch vor dem Ersten Weltkrieg an eine Familie Berg
Hilke verkaufte noch vor dem Ersten Weltkrieg an eine Familie Berg, sein Name blieb aber Marke. Eigentlich hatten die letzten Schnapsbrenner die Häuser an ihren Nachbarn, einen Dachdeckermeister verkauft. Der Bauunternehmer Arne Weber, der im Binnenhafen große Immobiliengeschäfte realisiert und auf dessen Ideen der Wandel des Gebiets vom sterbenden Industriestandort zum aufstrebenden Hightech-Quartier zurückgeht, hatte allerdings selbst Interesse an der Fabrik – wohl nicht so sehr an den Häusern, wie an dem Grundstück – und beklagte den Kaufvertrag. Der wurde für nichtig erklärt und Weber kam zum Zuge.
Seitdem ist es meistens still, zwischenzeitlich aber auch gerne mal laut um die Häuser. Weber hat bereits zwei Mal ihren Abriss beantragt. Dagegen sperrt sich das Denkmalschutzamt. „Die Fabrik mit ihrem rotgelben Backsteinmauerwerk, segmentförmigen Fenstern und schmückenden Gesimsen ist geschützt“, beschreibt der Hamburger Denkmalverein die Motivation der Behörde.
Der Erhalt des Denkmals sei Weber wirtschaftlich zuzumuten, heißt es aus dem Amt. „Keineswegs“, heißt es von Webers Juristen, die die Erhaltungsverfügung anfochten. Denn außer der reinen Sicherung der Gebäude, die Weber auch vorgenommen hat, würde das eine Sanierung nach sich ziehen, deren Kosten in die Millionen gehen dürften, da die Häuser vom Schwamm befallen sind. Wie viel genau ist zwischen Amt und Grundbesitzer strittig. Die Denkmalschützer setzen niedrig an, um Argumente für die Zumutbarkeit zu haben, der Bauunternehmer setzt höher an, um die Unzumutbarkeit zu belegen.
Vor vier Jahren wollte ein Wohnprojekt die Häuser in Harburg genossenschaftlich übernehmen
Ein Ausweg für Weber wäre der Verkauf. Und es gibt tatsächlich Interessenten. Vor vier Jahren wollte ein Wohnprojekt die Häuser genossenschaftlich übernehmen, kam mit Weber letztlich aber nicht überein. Stattdessen präsentierte der einen neuen Käufer, der aber zwischenzeitlich wohl wieder abgesprungen ist. Jetzt, so Weber, habe er einen neuen Interessenten.
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„Ich habe im Binnenhafen gerade das Bornemannsche Haus fertig saniert. Das war sehr aufwändig“, sagt er. „Derzeit habe ich wenig Neigung, noch ein Sanierungsprojekt dieser Größenordnung anzugehen. Ich bin daher hoffnungsvoll, die Likörfabrik verkaufen zu können.“
Was der eventuelle neue Besitzer mit den Fabrikgebäuden anstellen will, ist nicht klar. Frühere Sanierungskonzepte sahen eine gastronomische und kulturelle Nutzung der Wohn- und Brennereigebäude vor .