Seevetal. Im Dorotheenhof in Maschen wohnten wohlhabende Familien und wichtige Persönlichkeiten. Für einige hat der Ort in Seevetal besondere Bedeutung.
Es ist nur ein schmaler Pfad, der sich zwischen Büschen und Sträuchern hindurchschlängelt. Ein Trampelpfad könnte man denken, ginge man nicht auf Asphalt. Links und rechts hat die Natur bereits die Oberhand über die einstige Auffahrt zu einem stattlichen Anwesen in Maschen gewonnen. Einzelne Fassadensteine, halb im Boden versunken, deuten darauf hin, dass sich an diesem Lost Place in Seevetal, unter dem wild wuchernden Gestrüpp eine Geschichte verbirgt. Die Geschichte ganz unterschiedlicher Menschen, die in früheren Zeiten hier wohnten und arbeiteten.
Das Rauschen der Blätter vermischt sich mit dem dumpfen Rauschen der nahe gelegenen Autobahn. Der Pfad führt zu einer großen Eiche, auch sie verschwindet fast in dem verwilderten Dickicht. Zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts markierte an dieser Stelle ein alleinstehender Ahorn in einem Rondell das Ende der Auffahrt zu dem besonderen Haus an den Hallonen in Seevetal.
Lost Place in Maschen: Dorotheenhof war Jagdvilla, Mädchenheim und Notkrankenhaus
Auf dem Grundstück nahe dem Friedhof stand eine herrschaftliche Villa, in der Region auch bekannt als Dorotheenhof. Hier wohnten zeitweise ein Harburger Fabrikant, ein italienischer Weinhändler und ein späterer Hamburger Senator, das Gebäude im Landkreis Harburg diente als Notkrankenhaus mit Geburtsstation und Mädchenwohnheim.
Die Steine auf dem Boden zählen zu den letzten Spuren, die das Haus hinterlassen hat. Für einen Einblick in dessen bewegte Geschichte hat der Seevetaler Stadtarchivar Arndt-Hinrich Ernst zahlreiche Bilder und Dokumente gesichtet und mit Zeitzeugen sowie deren Nachfahren gesprochen. Ans Licht gebracht hat er überraschende und berührende Erkenntnisse zu den wechselnden Bewohnern und Nutzern des Dorotheenhofs.
Hamburger Fabrikant ließ im 19. Jahrhundert Park mit Obstbäumen anlegen
Gebaut im Jahr 1878 diente es zunächst als Jagdvilla und privater Landsitz eines wohlhabenden Fabrikanten aus Harburg. Robert Sixtus Heins hatte das Jagdrecht in der Feldmark Maschen gepachtet, sein neues Anwesen erweiterte er wenig später um ein Wohnhaus und ein Stall- und Wirtschaftsgebäude. Auf dem ausladenden Grundstück ließ er eine parkähnliche Gartenanlage errichten. Wer heute aufmerksam den verlassenen Pfad entlanggeht, kann noch einige Obstbäume, Forsythien und Rhododendren auf dem Gelände entdecken.
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Um die Jahrhundertwende war der Gebäudekomplex für einige Jahre im Besitz des neuen Jagdpächters Mario Cresta, einem gebürtigen Italiener und Weinhändler, der zuvor an den Hamburger Colonnaden wohnte. Möglicherweise wurde das Untergeschoss zu dieser Zeit als Weinkeller genutzt. Bereits 1901 ging die Villa erneut in andere Hände, Eigentümerin wurde Dorothea Henriette Hastedt, die in den kommenden Jahren auch dort wohnte. Auf sie geht der Name Dorotheenhof zurück.
Familie Hastedt: Namensgeber für Straßen und Wege in Seevetal und Hamburg
In Anspielung auf seine Bewohner war das Anwesen auch als Hastedt‘sche Villa, Villa Cresta oder Heins‘sche Villa bekannt. Mit der Familie Hastedt zog es eine angesehene Hamburger Familie, an die noch heute die Hastedtstraße, der Hastedtweg und der Hastedtplatz erinnern, nach Maschen. Das Jagdrecht ging an Dorotheas Bruder Richard, späterer Harburger Senator von 1912 bis 1924.
Richard Hastedt war Weinhändler und so ließ das Geschwisterpaar 1901 ein Weingewächshaus neben ihrer Villa anlegen. Wie ertragreich der Weinbau am zumindest sonnigen Nordhang der Hallonen war, ist nicht bekannt. Aus dieser Zeit stammt wahrscheinlich auch ein Tulpenbaum, wohl ein Mitbringsel aus Nordamerika. Mit einer Höhe von etwa 22 Metern und einem Stammumfang von rund 4,30 Meter ist der Baum ein eindrucksvolles Zeugnis der Geschichte.
In den 1940er Jahren diente die Villa als Entbindungsstation
Die wohltätige Familie Hastedt hat weitere Spuren in Maschen hinterlassen. So wurde auch dank ihrer finanziellen Unterstützung 1905 die erste Uhr, deren Schlag weithin zu hören war, an der damaligen Volksschule angebracht. Sie wurde 1997 mit einem elektrischen Antrieb versehen und am Dorfhaus angebracht.
Nach dem Tod der kinderlosen Geschwister Ende der 1930er Jahre wurde der Dorotheenhof Eigentum der Stadt Hamburg. Nachdem bei den Bombenangriffen auf die Stadt 1943 auch das Allgemeine Krankenhaus Harburg beschädigt wurde, diente die Villa als Notkrankenhaus. Auf der hier eingerichteten Entbindungsstation kamen bis zu ihrer Auflösung 1948 zahlreiche Menschen zur Welt, die noch heute in der Region leben. Mit etwas Hintergrundwissen und Vorstellungskraft können sie sich auf dem heute verlassenen Grundstück einen Eindruck von ihrem Geburtsort verschaffen.
In den 1950er-Jahren diente das Gebäude als Mädchenheim. Die Bewohnerinnen kamen aus sozial schwachen Hamburger Familien, sie gingen auf dem Gelände zur Schule, arbeiteten im Garten arbeiten und bauten Kohl im Gewächshaus an. Angeleitet wurden sie von Hermann Thode, der 1954 das Amt des Gemeindedirektors von Maschen übernahm.
Standort des einstigen Dorotheenhofs ist Teil des Hallonen-Rundwegs
Aus dem Mädchenheim wurde um 1970 eine Einrichtung für sogenannte schwer erziehbare Jugendliche. Doch 1983 beschloss der Hamburger Senat das Aus für die Heimschulen, im selben Jahre zogen die Jugendlichen aus. Überlegungen, den Gebäudekomplex in ein Hotel umzuwandeln, wurden aus Kostengründen verworfen. Heute ist ganz in der Nähe wieder eine besondere Schule: Die freie Schule Heureka hat das frühere Naturfreundehaus am Waldrand bezogen.
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1985 wurde der Dorotheenhof mitsamt der Nebengebäude abgerissen. Seit einigen Jahren ist der Lost Place Teil des Hallonen-Rundwegs, eine Informationstafel am Hastedtweg weist auf die Villa und ihre Geschichte hin. Ohne diesen Hinweis wäre es kaum zu erahnen, dass dieser Ort fast ein Jahrhundert lang das Leben ganz unterschiedlicher Menschen geprägt hat. Dank der Tafel ist auch der Beginn des Pfades zu erkennen, der kurz hinter der Autobahnbrücke beginnt.
Lost Place: Mehr zum Dorotheenhof im Buch „Streifzüge durch Seevetal“
Die Geschichte des Dorotheenhofs hat der Historiker Arndt-Hinrich Ernst zusammengetragen. Sein Beitrag „Der Dorotheenhof in Maschen – auf Spurensuche an einem geschichtsträchtigen ‚Lost Place‘“ ist Teil des Bandes „Streifzüge durch Seevetal. Lieblingsorte und Entdeckerplätze“, herausgegeben von der Kulturstiftung Seevetal und hier erhältlich.