Sandra wurde missbraucht, danach nahm sie Tabletten. Ihre Mutter fand sie rechtzeitig. Inzwischen kann sie über ihre Gefühle reden.

Warum? Ich hätte es doch wissen müssen? Ich bin doch die Mutter! Ich spüre doch, wenn mein Kind Probleme hat! Warum nur?

Das ist wohl die häufigste Frage der Eltern, die ihre Kinder beim Suizid verloren haben: nach dem Warum. Doch wie kommt es überhaupt dazu?

Jugendliche, die ihr ganzes Leben noch vor sich haben, wollen einfach nicht mehr leben. Ziehen selber einen Schlussstrich unter ihr junges, aber doch schmerzhaftes Leben. Kommen mit ihrer Welt nicht mehr zurecht. Alles scheint aussichtslos. Sie empfinden keine Hoffnung mehr.

In Deutschland sterben täglich drei Kinder und Jugendliche durch Suizid. Weitere 40 Kinder versuchen jeden Tag, sich das Leben zu nehmen. Die Anzahl der jugendlichen Selbstmorde ist in Großstädten doppelt so hoch wie auf dem Lande (Quelle: Institut Hans-Weinberger-Akademie in München). Suizidüberlebende sprechen oft von einer Leere, die sie empfinden. Pure Verzweiflung. Keiner kann einem mehr helfen, selbst die Familie nicht, beste Freunde. Jugendliche fühlen sich in ihren Problemen einfach nicht verstanden.

Eine Bekannte von mir, Sandra (Name geändert), hat mit 16 Jahren einen Suizidversuch unternommen. Sie hat mir davon erzählt. "Ich fühlte mich von all meinen Leuten verlassen. Keiner war mehr da für mich. Ich fühlte mich wie Abschaum, ein Haufen Dreck, den keiner mehr beachtet. Es war, als ob alle auf mir rumtrampeln. Und dieses Leid wollte ich nicht mehr erfahren." Auf die Frage, was ihr widerfahren sei, antwortete sie zögerlich, dass sie missbraucht wurde. Ein traumatisches Erlebnis. "Ich wollte einfach nicht mehr leiden. Jeden Tag stand ich auf und wollte wieder ein ,normales' Mädchen sein. Doch das konnte ich nicht. Die Geschehnisse saßen zu tief. Es tat tief weh im Herzen."

Sandra machte viel durch bis zu ihren Suizidversuch. Sie verletzte sich selber durch Ritzen, was ihr für kurze Zeit den seelischen Schmerz nahm.

Dann, nach langen Überlegungen, schrieb sie einen letzten Brief für ihre Angehörigen. "Das war das Schwerste am Suizid. Du sitzt am Tisch und schreibst einen Brief und weißt, dass du dann gleich sterben wirst. Dennoch habe ich eigentlich dabei an niemanden mehr gedacht. Und Angst vor dem Tod hatte ich auch nicht. Ich wollte es ja. Der Brief schrieb sich fast von alleine. Ich hoffte, dass mich dadurch dann alle verstehen werden", erzählt das Mädchen.

Wenn man heute den Brief liest, erkennt man deutlich, in welcher Situation sich Sandra befand. Merkwürdig fand ich, dass sie in so einer Situation ihre Gedanken so klar aufschreiben konnte.

Dann folgte der Selbstmordversuch: Sie nahm Tablette für Tablette. Bis sie an einer Überdosis zusammenbrach.

Glücklicherweise wurde sie noch rechtzeitig von ihrer Mutter entdeckt. Sie kam ins Krankenhaus. Nach paar Tagen durfte sie es wieder verlassen, kam dafür aber in die geschlossene Kinderpsychiatrie, wo sie nach ein paar Monaten entlassen wurde. Bis heute kann sie die grauenvollen und schmerzhaften Erfahrungen des Suizidversuchs nicht vergessen, deshalb geht sie noch regelmäßig zu einem Psychologen.

Sandra, heute 18 Jahre alt, erzählt: "Nach dem Suizidversuch war ich noch leerer als zuvor. Ich dachte nur, dass jetzt alles sinnlos sei. Das Leid hört niemals auf. Was ich am unfairsten fand, war, dass die Täter, die mir dieses Leid angetan haben, keine langen Strafen bekamen. Nur mickrige Geldstrafen. Das Opfer aber hat die Qualen und wird diese wahrscheinlich nie loswerden."

Viele Suizidüberlebende wollen sich gar nicht umbringen, sondern nur auf sich aufmerksam machen. Einen Hilferuf aussenden. War es bei Sandra auch so? "Hat man nicht immer Hoffnungen zu überleben? Ich wollte mich umbringen, weil ich verstanden werden wollte. Ich wollte einen Hilferuf aussenden, ob ich überlebe oder nicht, war mir in dem Augenblick jedoch vollkommen egal."

Leider ist es manchmal schwer zu erkennen, ob ein Jugendlicher suizidgefährdet ist, denn viele scheinen äußerlich noch ganz fröhlich zu sein. Sie lachen, unternehmen noch etwas. Doch der Schein trügt. Innerlich sieht es bei ihnen ganz und gar nicht fröhlich aus.

Die Ursachen für einen Suizid herauszufinden ist schwer. Meist sitzen sie tief in der Kindheit. Eine falsche Erziehung ist häufig ein Hauptgrund - die Vernachlässigung des Kindes, ständige Kritik am Kind, angstfördernde Erziehung, zu hohe Leistungserwartung oder gestörte Familienverhältnisse.

Doch der Selbstmordversuch folgt meist erst später, denn für einen Suizid gibt es immer einen plötzlichen Auslöser. Ein traumatisches Erlebnis wie der Verlust eines Elternteils durch Scheidung oder Tod, Probleme in der Schule oder Beruf oder Drogenprobleme.

Oft fühlen sich die Jugendlichen dann mit ihren Problemen allein. Sie blockieren völlig. Die Eltern sind häufig machtlos und erkennen die Situation erst, wenn es schon zu spät ist. Das Erschreckende ist: 85 Prozent derjenigen, die einen Suizidversuch unternommen haben, versuchen es noch ein zweites Mal.

Auf die Frage, ob auch sie noch mal an einen Suizidversuch gedacht hat, antwortet Sandra: "Als ich im Krankenhaus lag schon. Ich fühlte wieder das Leid. Aber ich habe inzwischen gelernt, mit meinen Gefühlen umzugehen. Ich rede jetzt viel mehr über meine Probleme, das hilft mir sehr."

Was soll man nur machen? Als Eltern kann man nur die eigenen Kinder gut beobachten und entscheidende Veränderungen wahrnehmen und dann etwas unternehmen, zum Beispiel einen Psychologen aufsuchen.

Aber meistens ist es leider zu spät um zu helfen, dann finden die Angehörigen nur noch einen Brief auf dem Bett vom eigenen toten Kind, mit Liebesgrüßen und den Gedanken des Jugendlichen.

Ramona Beyer, 10a

Johannes-Brahms-Gymnasium