Alles begann mit einer simplen Bemerkung. “Dass auch immer alles auf einmal kommen muss“, sagte ihr Bruder lapidar. Da wusste Jacqueline Weiß (24)...
Alles begann mit einer simplen Bemerkung. "Dass auch immer alles auf einmal kommen muss", sagte ihr Bruder lapidar. Da wusste Jacqueline Weiß (24) noch nicht, dass nichts mehr sein würde wie bisher. Dass sie, damals gerade mit dem Abitur fertig und von einem Auslandsaufenthalt träumend, in Kürze auf Elternabende gehen würde - gehen müsste. Auf die ihrer jüngeren Geschwister. Weil innerhalb von zwei Jahren Mutter, Großmutter und Vater starben. Und Jacqueline plötzlich zur eigenen Zukunftsplanung die Verantwortung für vier weitere Leben dazubekam.
Ihre jüngste Schwester Jasmina war gerade sechs, als bei der Mutter Lungenkrebs diagnostiziert wurde. Die Prognose war niederschmetternd: Die Metastasen hatten sich im Körper ausgebreitet. Jacqueline Weiß wusste davon noch nichts. Sie war nach der Trennung der Eltern zum Vater gezogen und besuchte diesen gerade im Krankenhaus, als ihr Bruder Sebastian mit der Nachricht rausplatzte. "In dem Moment habe ich mich geärgert, dass ich mich mit meiner Mutter gestritten hatte", sagt die junge Frau. "Ich bin zu ihr und meinen Geschwistern zurückgezogen, um die restliche Zeit zu nutzen."
Während die Mutter immer schwächer wurde, übernahm die älteste Tochter weitestgehend ihre Aufgaben, unterstützt von den Tanten. Mutter und Tochter kamen in diesen Monaten um ein schwieriges Gespräch nicht herum: "Wir mussten klären, wer sich um meine Geschwister kümmern wird", sagt Jacqueline Weiß. "Zu meinem Vater sollten sie nicht, das wollte meine Mutter nicht. Meine Tanten arbeiteten beide viel, da bin dann nur noch ich übrig geblieben." Gemeinsam setzten sie ein Schreiben auf, dass es der ausdrückliche Wunsch der Mutter sei, dass nach ihrem Tod die Kinder in die Obhut der ältesten Tochter kämen. Im Mai 2005 stirbt Martina Alice Weiß (41).
Zwei Wochen später wird Jacqueline Weiß, damals 20, die Vormundschaft für ihre Schwestern Jessika (15), Jeannette (12) und Jasmina (7) zugesprochen. Bruder Sebastian ist da gerade volljährig. Die Geschwister ziehen von Schenefeld nach Wedel um. "Wohnungssuche, Versicherungen abschließen, Gespräche mit dem Jugendamt - plötzlich musste ich mich mit solchen Themen auseinandersetzen", erinnert sich Jacqueline Weiß. Sie hat damals eine Ausbildung zur Groß- und Außenhandelskauffrau begonnen. "Ich habe meinen Geschwistern gleich gesagt: 'Ich bin nicht eure Mutter, ich bin auch nur eine Schwester, die ein eigenes Leben hat.'" Das Zusammenleben und die Gespräche untereinander ersetzen in gewisser Weise eine Therapie, sagt sie. Auch als 2006 die Großmutter und 2007 der Vater sterben. Ein Musiker hilft den Geschwistern in dieser Zeit: Xavier Naidoo wird mit dem Album "Telegramm für X" zu ihrem Sprachrohr. "Über seine Texte konnten wir uns ausdrücken", so Jacqueline Weiß. Im September fing sie, parallel zur Arbeit, ein BWL-Studium an der Northern Business School an. Ein Stipendium des Unternehmers Albert Darboven macht es möglich. Sie tut es für sich - und für ihre Geschwister: "Ich möchte ihnen Vorbild sein, ihnen zeigen, dass wir trotz des Geschehenen gut weiterleben, etwas erreichen können." Oder wie Naidoo es ausdrückt: "Ich bin dankbar dafür, weil ich jeden Tag mit meinen Brüdern und Schwestern das echte Leben spür. Was wir alleine nicht schaffen, das schaffen wir dann zusammen ..."
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