Die Betreuer sehen sich durch das Gutachten der Sozialbehörde als Schuldige diffamiert: “Wütend und enttäuscht.“
Im Fall der mit nur neun Monaten gestorbenen Lara aus Wilhelmsburg läuft alles auf zwei Fragen hinaus: Sind die betreuenden Mitarbeiter vom Rauhem Haus und vom Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) Wilhelmsburg der "Routinefalle" zum Opfer gefallen und haben deshalb Fehler in der Betreuung der Familie und des Babys gemacht? So sieht es die Sozialbehörde. Oder konnten die ASD-Mitarbeiter ihre Aufgaben deshalb nicht hundertprozentig erfüllen, weil der ASD-Wilhelmsburg zum Zeitpunkt der Betreuung zu wenig Personal zur Verfügung hatte und die vorhandenen Mitarbeiter deshalb überlastet waren? So sehen es der Bezirk Mitte, die ASD-Mitarbeiter und die Opposition.
Bei der Sitzung des Familienausschusses der Bürgerschaft, der sich gestern erneut mit dem Fall Lara beschäftigte, bekräftigte Sozialsenator Dietrich Wersich (CDU) seine Sicht der Dinge, die sich auf den Expertenbericht seines Hauses stützt. Danach sei die "Hilfeplanung nicht ausreichend auf die Situation der Familie eingegangen". Erfahrung und Routine hätten zu Fehlern geführt.
Gegen diese Darstellung der Ereignisse hatten sich schon am Morgen die Mitarbeiter des ASD-Wilhelmsburg gewehrt und mit einem offenen Brief an Sozialsenator Wersich gegen das Expertengutachten der Sozialbehörde protestiert. Stellvertretend für den Senator nahm Staatsrätin Angelika Kempfert den Brief gestern im Rathaus entgegen. In dem Brief, der dem Abendblatt vorliegt, heißt es wörtlich: "Mit Wut und Enttäuschung haben wir die Pressekonferenz am Freitag, 17. April, und ihren Expertenbericht zum Fall Lara R. zur Kenntnis genommen." Besonders die Vorwürfe einer "nicht ausreichenden Dokumentation, telefonische Abklärung statt einer Inaugenscheinnahme des Kindes sowie eine angeblich nicht erfolgte kollegiale Beratung erfüllen uns mit Unverständnis und Wut", heißt es weiter.
Das Gutachten, das nach dem Tod der unterernährten Lara aus Wilhelmsburg die Umstände des Todes klären und die Arbeitsabläufe der betreuenden Mitarbeiter von Jugendamt und Rauhem Haus klären sollte, kam zu dem Ergebnis, dass vor allem der zuständige Mitarbeiter des ASD-Wilhelmsburg und die Betreuerin des Rauhen Hauses Fehler gemacht hätten. Der Behörde seien hingegen keine Versäumnisse vorzuwerfen, weil die vorliegenden gesetzlichen Regelungen ausreichend seien (wir berichteten).
Das wiesen die ASD-Mitarbeiter gestern deutlich zurück. Der zuständige Kollege habe "im Rahmen der personellen Ressourcen" gearbeitet, hieß es. Zurzeit betreue jeder Mitarbeiter des ASD-Wilhelmsburg rund 95 Fälle, sagte Astrid Diers, Sozialpädagogin und seit mehr als 20 Jahren beim ASD-Wilhelmsburg. So heißt es auch in dem offenen Brief an Senator Wersich: "Ihre Behörde und damit auch Sie waren seit Monaten über die katastrophale Arbeitssituation informiert." In einem an Wersich formulierten Schreiben vom September 2008 hatten die Mitarbeiter darauf hingewiesen, dass "die Akten nicht mehr in dem Maße geführt werden können, wie es erforderlich ist. Planung und Begleitung von Hilfeverläufen nicht mehr zu bewältigen sind ... und die Abteilung nicht mehr handlungsfähig ist." Die Reaktion der Behörde darauf seien Arbeitsanweisungen wie "Hilfeplanung light" und "Prioritätensetzung" gewesen.
Senator Wersich bestätigte, von der Arbeitssituation im ASD-Wilhelmsburg im Rahmen der Überlastungsanzeige im September 2008 erfahren zu haben. Er kündigte während der Ausschusssitzung an, sich mit den Absendern des Briefes in Verbindung setzen zu wollen.
Die SPD-Bürgerschaftsfraktion hat im Zuge der Sitzung ihrerseits angekündigt, die Vorlage aller Akten im Fall Lara zu beantragen.
Unterdessen ist die genaue Todesursache des nachweislich unterernährten und dehydrierten Kindes noch immer unklar. Das gerichtsmedizinische Gutachten steht weiterhin aus. Die Staatsanwaltschaft rechnet damit, dass ein Zwischengutachten frühestens in zwei Wochen vorliegt. Das endgültige Gutachten der Mediziner werde mindestens zwei weitere Wochen auf sich warten lassen.