Siegen. An der Uni nehmen 50 Interessierte an Marathon-Veranstaltung zur US-Wahl teil. Warum das teils zur „unheimlichen Erfahrung“ wird.
Ihr Herz liege schon im Bett, sagt die erschöpfte Studentin nachts um 2:15 Uhr, während der Rest ihres Körpers noch wach und hier ist: im Fernsehstudio der Uni Siegen, bei der nächtlichen Marathonveranstaltung zur Präsidentschaftswahl in den USA.
Zwölf Stunden am Stück verfolgen sie auf dem Campus in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch das Rennen zwischen Donald Trump und Kamala Harris. Von 20 Uhr abends bis 8 Uhr morgens. Nichts für Schlafmützen.
Gut 50 Teilnehmer sind zur „US Election Night“ gekommen, schlagen sich die Nacht um die Ohren. Studenten, Dozenten und weitere Interessierte fiebern mit, einer von ihnen ganz besonders: Marcus Ensley, Austauschstudent aus den USA, für ein Jahr in Siegen zu Gast.
Er sei eigentlich nicht allzu emotional, aber eine „unheimliche Erfahrung“ sei diese Art der Wahlteilnahme schon für ihn. Er fühle sich „machtlos“ so weit weg vom Geschehen in seiner Heimat, sagt der 21-Jährige und bekennt: „Je länger die Nacht geht, desto nervöser werde ich.“
Es soll eine sehr lange Nacht für ihn und die anderen werden.
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Jogginghosen, Decken, Kissen
Die meisten von ihnen – 31 sind es – nehmen an der Veranstaltung im Rahmen ihres Anglistik-Studiums und eines Seminars zur US-Wahl teil. Diese Studenten halten, während auf einer großen Leinwand im Hintergrund die Live-Übertragung der US-Sender CNN, Fox und NBC sowie der britischen BBC läuft, nach und nach Vorträge zu Themen rund um die US-Wahl. Um 1:21 Uhr geht es beispielsweise um Verschwörungstheorien, vorgetragen von drei Studentinnen, von denen eine etwa eine halbe Stunde zuvor noch ein Nickerchen auf ihrem Sitzplatz im Zuschauerbereich gehalten hatte. Da ist sie nicht die einzige... Andere päppeln sich mit Essen auf. „Wir sind jetzt dran. Du kannst die Chips wegpacken“, sagt eine Studentin zur anderen, bevor beide dann nach vorne zur Präsentation ihres Vortrags schreiten.
Nicht wenige Studenten sind in bequemen Jogginghosen gekommen, haben sich Kissen und Decken mitgebracht. Ein Gähnen hier, ein Augenreiben da. Durchhaltevermögen ist gefragt. Im Untergeschoss des Gebäudes steht eine Sitzecke für diejenigen, welche eine Verschnaufpause brauchen. Auf dem Flur vor dem Fernsehstudio ist Essen (unter anderem Cookies und Brownies) aufgefahren, auch stehen Energy Drinks und Kaffee bereit.
„Wenn Sie einen Kaffee brauchen, um wach zu bleiben, wir haben einen Kaffee-Meister hier, der einen exzellenten Kaffee macht“, empfiehlt Dozent Dr. Marcel Hartwig seinen Zuhörern um 1:40 Uhr.
„Gewinnt Trump, werden es sehr dunkle Zeiten.“
Sympathien gelten Harris
Wohl alle hier unterstützen Kamala Harris. Dozent Hartwig, der die Veranstaltung des Seminars für Anglistik organisiert, trägt beispielsweise ein T-Shirt mit dem Konterfei der amtierenden Vizepräsidentin der Demokraten. Eine Studentin hat sich einen Sticker angeheftet, der sie als Unterstützerin von Harris und deren Vizepräsidentschaftskandidaten Tim Walz ausweist.
Auch Marcus Ensley, der Austauschstudent aus den USA, hofft auf einen Harris-Sieg, dabei sei er unter anderem in Texas, Nebraska und Missouri aufgewachsen, also in Republikaner-Land. Er wisse daher, warum viele seiner Mitbürger Trump wählen, dennoch tue er sich schwer damit, es zu akzeptieren – und es nun aus der Ferne beobachten zu müssen. Er habe Kamala Harris gewählt, per Briefwahl. Von Trump hingegen hält der 21-Jährige, der Informatik und Deutsch an der Siegener Partneruniversität in Tulsa (US-Bundesstaat Oklahoma) studiert, nichts. Der Republikaner, sagt Ensley, sei „eine Bedrohung für die Demokratie“.
Ähnlich sehen das in dieser Nacht in Siegen wohl auch die anderen Teilnehmer.
Lehramtsstudent Till, der mit der eingangs erwähnten Kommilitonin, deren Herz bereits um 2:15 Uhr im Bett ist, eine Pause an der frischen Luft einlegt, sieht nach einem Trump-Sieg „sehr dunkle Zeiten“ kommen, nicht nur für die Vereinigten Staaten. „Es schwappt auch alles rüber nach Deutschland“, etwa der Populismus Trumpscher Art, sagt der 25-Jährige.
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Deutscher Republikaner als Wachmacher
Die Stimmung bei der Veranstaltung ist eher gedämpft, was jedoch nicht am zunächst offenen Verlauf der Wahl liegt, über welche die US-Sender fortlaufend informieren. Viele Zuschauer hier in Siegen sind des Nachts müde, achten außerdem weniger auf die Ergebnisse aus den einzelnen Bundesstaaten, lauschen stattdessen mehr den vielen Vorträgen oder per Videoanruf zugeschalteten Gesprächspartnern aus den USA, beispielsweise Dozenten von Partneruniversitäten in Tulsa oder Norfolk (Virginia).
Leben kommt in die Bude, als Kamala Harris den Bundesstaat New York gewinnt; da klatschen sie hier alle (nach ermunternden Worten von Dozent Hartwig). Oder, als Benjamin Wolfmeier per Videoanruf zugeschaltet wird. Der Mann aus Bielefeld steht für vieles, was die in Siegen Anwesenden ablehnen.
„Ich fühle mich machtlos, alles von hier zu beobachten, zu beobachten, dass sie Trump wählen.“
Wolfmeier ist Sprecher der „Republicans Overseas“ in Deutschland, er ist auf Wahlkampftour in den USA – für Donald Trump. Um kurz nach 3 Uhr sagt er zu seinen Zuhörern in Siegen, dass es „bisher eine sehr gute Nacht“ sei. Jedenfalls aus republikanischer Sicht. Wolfmeier ist siegessicher, „Trump“, sagt er, „wird den American Dream zurückbringen“. Für seine Zuhörer klingt das wie ein Albtraum.
Als Wolfmeier Trumps Politik und Rhetorik verteidigt, dessen erste Präsidentschaft lobt („sehr erfolgreich“) oder die meisten Flüchtlinge als „Kriminelle“ bezeichnet, reagieren viele offen mit Unverständnis, etwa Emine Asci. „Ich“, sagt sie, „konnte mir ein Kopfschütteln nicht verkneifen.“
Immerhin sind jetzt alle wieder wach.
Erinnerungen an Clinton-Niederlage 2016
Weitere viereinhalb Stunden soll die Veranstaltung nach Wolfmeiers Auftritt noch dauern. „Long way to go“, meldet CNN zu den andauernden Auszählungen in den US-Bundesstaaten: noch ein weiter Weg. Das passt auch zur Wahlnacht an der Uni Siegen.
Einige Teilnehmer halten nicht bis zum Schluss durch. Um 4:03 Uhr geht beispielsweise Emine Asci. Sie ist Anglistik-Dozentin an der Uni Siegen, lobt die Veranstaltung als „sehr spannend“, doch sie ist nun müde – und unsicher, wie sie den Verlauf der US-Wahl bis dahin einordnen soll. Zwar steht zu dem Zeitpunkt ein Sieger noch nicht fest, aber der Trend zu Donald Trump zeichnet sich ab. „Ich weiß nicht, mit welchem Gefühl ich gehe“, sagt Asci, „aber ich bin eher pessimistisch, ich hatte mir mehr erhofft.“
„Die Stimmung? Bedrückt. Das fühlt sich wie 2016 an.“
Nicht nur sie. Die Stimmung unter dem Dutzend, das bis 8 Uhr durchhält, beschreibt Dozent Hartwig als „bedrückt“. Das, sagt der Harris-Unterstützer, der die Hoffnung noch nicht aufgegeben hat, obwohl sich Donald Trump bereits zum Sieger erklärt hat, „fühlt sich wie 2016 an“.
Damals leitete Hartwig die „US Election Night“ an der Uni Siegen erstmals – und sah, wie Trump Hillary Clinton besiegte.