Siegen. Vom Hörgeschädigten zum Hörakustiker: Bereits als Kind musste Silas Becker (25) mit Problemen kämpfen. So sieht sein Alltag heute aus.
Silas Becker spricht betont und deutlich, er redet gerne und viel. Dabei konnte er nicht immer schon verständlich sprechen. „Weil ich meine eigene Stimme nicht hören kann, war die Aussprache mein großes Problem“, erinnert er sich. Denn der 25-Jährige ist von Geburt an hörgeschädigt. Sprechen lernte er erst, als er mit drei Jahren sein erstes Hörgerät erhielt.
Deswegen stand auch nicht immer fest, ob er einen normalen Beruf ausüben könne. Nun hat er einen Beruf, in dem es gerade auf das verständliche Sprechen ankommt: Er ist selbst Hörakustiker geworden. Und das Kundengespräch, das macht ihm am meisten Spaß. Aber Sprechen erfordert bei ihm eine besondere Konzentration: „Wenn ich schnell rede, kann es immer noch passieren, dass ich mich verhasple.“
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Siegener Hörgeschädigter: Auf Hilfsmittel angewiesen
Heute sitzt Silas Becker in seinem Büro in der Siegener Praxis „Hören und Verstehen“. Seine Schwerhörigkeit ist ihm nicht anzumerken. Einzig die winzig kleinen Geräte in seinen Ohren weisen darauf hin, dass er hörgeschädigt ist.
Dass er die ersten Hörgeräte erst mit drei Jahren bekommen habe, liege daran, dass es damals flächendeckende Hörscreenings nach der Geburt noch nicht gab. Dabei kann Silas Becker ohne Hilfsmittel fast nichts hören. Bei normal lauter Sprache höre er ohne Hörgeräte null Prozent, sagt er. Und auch bei lauten Geräuschen könne er nur 25 Prozent verstehen. Warum das so sei, sei nicht ganz ergründet.
Schwerhörigkeit: Vieles ist anstrengender
Klar ist: Sein Alltag unterscheidet sich von dem gut hörender Personen. Weil er beim Schlafen seine Hörgeräte herausnimmt, um die Akkus zu laden, kann er nachts nicht hören. Daher klingelt sein Wecker beispielsweise nicht, sondern vibriert. Das Gleiche gilt für den Rauchmelder: Auch dieser ist mit seinem Wecker verbunden.
Außerdem muss er sich öfter Pausen nehmen, denn vieles ist für ihn anstrengender. Eigentlich sei er extrovertiert, sagt er. Auf einer Party oder in einer Kneipe ziehe er sich aber trotzdem oft in den engen Freundeskreis zurück. Für den Kontakt mit Fremden fehle ihm dann die Energie.
„Wenn ich schnell rede, kann es immer noch passieren, dass ich mich verhasple.“
In der Corona-Zeit war es für ihn besonders schwierig
Probleme, so sagt er, hat er vor allem in großen Gruppen, wie auf einer Geburtstagsfeier oder im Restaurant. Auch Nebengeräusche auf der Straße können ihn vor eine Herausforderung stellen. Selbst bei schlechten Bildverhältnissen bei einem Film oder ähnlichem muss er sich besonders konzentrieren. Denn das Verstehen beschränkt sich längst nicht nur auf das Hören. Wichtig ist für ihn auch, was seine Augen beobachten können. Doch: „Man muss 60 Prozent eines Satzes verstehen, um den Inhalt zu begreifen. Die Lücken werden je nach Situation schlimmer.“
„In der Corona-Zeit war das extrem. Kein Mundbild, Glasscheiben, reflektierter Schall“, erinnert er sich. „Da hatte ich die größten Herausforderungen.“ Schwierigkeiten habe er im Alltag auch manchmal beim Telefonieren. Das Verstehen sei kein Problem, das Telefon lasse sich direkt mit seinem Hörgerät verbinden, aber Stimmen könne er oft nicht erkennen. Auch mit den Klangfarben einer Stimme habe er bisweilen Schwierigkeiten: „Ironie kann ich manchmal nicht heraushören. Dann kann es schon sein, dass ich nachfragen muss.“
Siegen: Arbeit als Hörakustiker
Tatsächlich ist der 25-Jährige bereits als Kind in die Praxis gegangen, in der er heute selbst arbeitet. Sein heutiger Arbeitgeber habe damals nicht nur ihn, sondern auch seine Eltern begleitet, erinnert er sich. „Ich habe immer schon mit Hörgeschädigten zu tun gehabt.“ So kam es, dass er sich bei einem Schülerpraktikum für die Siegener Praxis entschied – und später in der Praxis seiner Kindheit seine Ausbildung absolvieren konnte. „Ich bin mit dem Beruf aufgewachsen.“
Dass er so viel Unterstützung für die Logopädie und die Hörakustik erhalten habe, verdanke er auch seinen Eltern: „Ich hatte das Glück, dass meine Familie viel Zeit und Energie investiert hat.“ Das sei nicht selbstverständlich und für viele Familien auch eine große finanzielle Herausforderung. Wenn er heute spricht, kann, nur wer darauf achtet, noch ein leises Lispeln ausmachen.
Siegerland: Mit dem Hörgerät in die Schule
Zu Beginn seiner Schulzeit war dabei noch nicht einmal klar, ob er in eine Regelschule würde gehen können. Nach vielen Logopädie-Stunden und einer Testphase auf einer Förderschule war letztlich aber klar: Der Besuch einer Regelschule ist möglich. Auf der Realschule und dem Gymnasium, die er dann besuchte, erhielten seine Lehrkräfte jeweils ein Zusatzmikrophon.
„Bis auf wenige Fälle haben sie dafür auch Verständnis aufgebracht“, erinnert er sich. Trotzdem eine Zusatzbelastung für ihn: „Ich musste immer Eigeninitiative zeigen. Man musste das Mikrophon vor der Stunde abgeben und sich danach wieder zurückholen.“
Tipps zum Umgang mit Schwerhörigen
Silas Becker kennt die Probleme der Hörbehinderung aus beiden Perspektiven: Als Betroffener beschäftigt er sich schon sein Leben lang damit, wie andere reagieren. Und als Hörakustiker nimmt er selbst Rücksicht auf die Kunden und Kundinnen der Praxis. Einige Strategien würden ihm dabei besonders helfen. Er erklärt, es sei vor allem wichtig, langsam und deutlich zu sprechen. Geflüsterte Worte seien schwierig zu verstehen. Aber auch zu laute Sprache könne Hörgeschädigten Probleme bereiten.
Ein paar Tipps hat er auch für bestimmte Alltagssituationen: „Wer mit einem Hörgeschädigten ein Restaurant besuchen will, sollte darauf achten, dass es ein freies, gutes Sichtfeld gibt.“ Damit das Gesicht und die Lippen gut beobachtet werden könnten, sollte auch etwa auf gute Beleuchtung geachtet werden. In großen Räumen – wie einem weitläufigen Café – könne es helfen, sich etwas abgeschottet zu setzen.
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Schwerhörigkeit: Umgang in der Gesellschaft
Bei seinen Freunden und seiner Familie seien seine Hörgeräte heute allerdings kein Problem: „Mein Umkreis ist ‚erzogen‘. Die wissen alle, dass ich Hörgeräte trage und verhalten sich auch dementsprechend.“ Sie würden deutlich sprechen und darauf achten, dass er sie verstehen könne. Bei Fremden sei dies hin und wieder etwas schwieriger: „Die meisten reagieren mit einem ‚okay‘. Wenn jemand in einer stressigen Situation ist, kann es aber auch sein, dass er kein Verständnis aufbringt“, bedauert Silas Becker. Das komme allerdings selten vor.
Seine Schwerhörigkeit hat auch einen Vorteil: Sie helfe ihm, die Schwierigkeiten der Kunden und Kundinnen zu verstehen. Doch manchmal benötige er in einem Gespräch auch selbst Hilfsmittel. „Ich kann zum Beispiel zusätzliche Mikrophone am Kunden anbringen, damit ich ihn besser verstehe“, erklärt er. Meistens benötigt er solche Hilfsmittel allerdings nicht. Trotzdem ist für ihn klar: „Ich werde niemals so gut hören können, wie andere.“