Dortmund. Wer schlecht hört, ist alt? Nein, auch Junge brauchen Hörgeräte – und schämen sich oft dafür. Das könnte sich ändern: Apple steigt ein.

„Ich trage jetzt seit circa zwei Jahren Hörgeräte. Und wenn ich das Leuten erzähle, dann sind sie immer total überrascht, was Hörgeräte alles können. Ich kann nämlich mit denen Musik hören, Podcast hören, ich kann mit ihnen auch telefonieren, mit denen quasi alles machen, was man mit Kopfhörern auch kann“, schwärmt der Student Levi Penell (24) auf TikTok. Sein Fazit: „Junge, sind die Dinger geil!“

Wer schlecht hört, ist alt. So die weitverbreitete Meinung. Doch es gibt mehr und mehr Menschen, die nicht erst im hohen Alter, sondern schon in der Jugend oder mitten im Berufsleben schlecht hören. Menschen wie der 24-jährige Levi Penell. „Schwerhörigkeit ist überhaupt keine Frage des Alters“, betont Antje Klöcker. Die Diplom-Heilpädagogin arbeitet im Zentrum für Gehörlosenkultur in Dortmund in der Beratung für schwerhörige und ertaubte Menschen – ein Angebot für Dortmunder Bürger und Bürgerinnen, das bei weitem nicht nur Ältere in Anspruch nehmen.

16 Millionen Menschen in Deutschland hören schlecht

Heute leben hierzulande nach Angaben des Deutschen Schwerhörigenbunds knapp 16 Millionen Menschen mit Hörbeeinträchtigungen. Und es werden immer mehr, wie die Weltgesundheitsorganisation WHO prognostiziert. Der Grund dafür ist laut „World Report on Hearing“: der andauernde Lärm im Alltag. Und dabei denken Wissenschaftler nicht nur an Konzertbesuche, sondern auch an die viel zu laut eingestellten Kopfhörer.

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Doch viele Betroffene gehen nicht zum Hals-Nasen-Ohren-Arzt (HNO), weil sie das Problem herunterspielen oder sich schämen. Während sie eine Brille als normal oder sogar modisch betrachten, empfinden sie ein Hörgerät als Makel. Dabei kommen sie ohne diese Hilfe, ohne ein Hörgerät immer schlechter durch den Alltag. Das könnte sich bald ändern, weil begeisterte Hörgeräte-Träger wie Levi Penell auf TikTok mit Vorurteilen aufräumen. Und weil Apple mit seiner großen Technik-Fan-Gemeinde nun in das Hörgeräte-Geschäft einsteigt. Werden Hörgeräte hip?

Wer schwerhörig ist, wird schneller müde

Junge Menschen, die schwerhörig sind, keine Geräte tragen und am Anfang ihres Berufswegs stehen, kommen in Antje Klöckers Beratung, weil sie sich abgehängt fühlen oder nach der Arbeit extrem müde sind. „Dann erkläre ich, dass jemand, der schwerhörig ist, viel, viel mehr Energie aufwenden muss als jemand, der normal hörend ist“, so Antje Klöcker. Die ganze Zeit angestrengt zuzuhören, kostet Kraft. „Dann ermüdet man auch schneller oder fühlt sich einfach schneller schlapp.“

Technische Hilfen können eine Lösung sein. Die 41-Jährige empfiehlt, zunächst einen HNO-Arzt aufzusuchen, bevor man zum Hörgeräteakustiker geht. Denn nur er kann auch ein Hörgerät verordnen, dessen Kosten für eine einfache Hilfe die Krankenkasse übernimmt. Doch bis jemand den Schritt geht, sich ein Hörgerät zulegt, vergeht oft viel Zeit. Klöcker: „Das führt dann leider häufig zu einer Abwärtsspirale.“

Diplom-Heilpädagogin Antje Klöcker, Beratung für schwerhörige und ertaubte Menschen im Zentrum für Gehörlosenkultur in Dortmund

„Ein Hörgerät bringt einem vielleicht ein Gefühl von Normalität zurück.“

Diplom-Heilpädagogin Antje Klöcker, Beratung für schwerhörige und ertaubte Menschen in Dortmund

„Die Menschen fangen an, bestimmte Situationen zu meiden, sie ziehen sich sozial zurück, weil sie da kommunikativ nicht mehr mithalten können. Sie sagen: ,Ich kann das nicht richtig verstehen‘ oder ,Da entstehen so viele Missverständnisse‘.“ Und dann bringen sie sich in Gefahr, weil sie zum Beispiel die Klingel eines Fahrrads nicht mehr hören. Zudem gibt es einen Zusammenhang zwischen Schwerhörigkeit und Demenz.Antje Klöcker: „Auch deswegen ist es wichtig, sich so früh wie möglich mit den Geräten versorgen zu lassen, um die Verbindung zwischen Ohr und Gehirn aufrechtzuerhalten.“

Dieses Schamgefühl! Am besten selbstbewusst mit der Schwerhörigkeit umgehen

Antje Klöcker empfiehlt, offen und selbstbewusst mit seiner Schwerhörigkeit umzugehen und andere Leute darum zu bitten, deutlich zu sprechen. Wenn der Gesprächspartner weiß, dass man nur schwer versteht, nimmt er zum Beispiel auch gerne das Kaugummi aus dem Mund und hält Blickkontakt. „Das Schamgefühl kann sich reduzieren, wenn man positive Empfindungen zu seinem Hörgerät hat, es als positiv besetztes Hilfsmittel wahrnimmt. Weil man dadurch wieder gelingende Gespräche führen kann, nicht mehr so viel Missverständnisse und damit Streit zum Beispiel in seiner Beziehung hat.“

„Geht halt mal selber zum HNO oder schickt euren Freund dahin und macht einen Hörtest“, fordert Levi Penell auf TikTok auf, wenn die Leute bei sich oder ihren Freunden bemerken, dass sie Leute nicht verstehen oder oft fragen: Was? Wie bitte? Tausende Kommentare erhält er dafür von seinen mittlerweile rund 445.000 Followern.

Die meisten Hörgeräte trägt man hinter dem Ohr. Aber es gibt auch welche, die im Ohr verschwinden. Doch das hat auch Nachteile.
Die meisten Hörgeräte trägt man hinter dem Ohr. Aber es gibt auch welche, die im Ohr verschwinden. Doch das hat auch Nachteile. © Shutterstock / Dragana Gordic | Dragana Gordic

Auf Levi Penells Kreuzzug, mit Vorurteilen gegenüber Hörgeräten aufzuräumen, könnte ihm nun Apple zur Seite stehen. Schon seit längerem kann man einige Hörgeräte mit dem Smartphone koppeln, um so zu telefonieren oder Musik zu hören. Die US-Firma mit ihrem revolutionären Image wird jetzt jedoch ihre kabellosen Ohrstöpsel, die angesagten AirPods, mit einer Hörgeräte-Funktion versehen. Im September dieses Jahres hat die US-amerikanische Zulassungsbehörde FDA die Apple-Software „Hearing Aid Feature“ anerkannt, sie könne die In-Ear-Kopfhörer in eine Hörhilfe für Menschen ab 18 Jahren verwandeln. 

Apple entwickelt Software für ein besseres Hören

Auf dem Smartphone oder dem Tablet ließen sich dann Lautstärke, Ton und Balance bei den Airpods Pro 2 einstellen. Allerdings sind diese Geräte nur für Menschen mit leichter oder mittelschwerer Hörminderung gedacht. Es wäre also lediglich ein vergleichsweise kostengünstiges Einstiegsgerät – für ein Hörgerät kann man je nach Qualität und Funktionen mehrere Tausend Euro zuzahlen. Zudem ist ein recht auffälliges, wenn man die Ohrstöpsel mit modernen Hörgeräten vergleicht, die teils ganz im Ohr verschwinden. Außerdem gibt es bereits heute schon auf dem deutschen Markt so genannte Hearables. Das sind Bluetooth-Kopfhörer, die Sprache verstärken.

Immer mehr Menschen hören also schlechter, weil sie sich über Kopfhörer ständig beschallen lassen. Wie zielführend ist es, wenn schwerhörige Menschen dann ständig über Hörgeräte laut Musik hören? „Wenn ich lange Zeit darauf verzichten musste, in einer guten Klangqualität Musik zu hören, und das jetzt wieder erleben darf, ist das auch Lebensqualität und bringt einem vielleicht ein Gefühl von Normalität zurück“, sagt Antje Klöcker. „Auf der anderen Seite ist so eine Dauerbeschallung auch schwierig.“ Es komme darauf an, wie laut und wie lange jemand seinem Ohr Lautstärke zufügt. „Die Dosis macht den Unterschied“, sagt die Heilpädagogin. „Da ist es wichtig, mit dem Akustiker die richtigen Einstellungen vorzunehmen, dass es dadurch nicht zu weiteren Schädigungen kommt.“ Außerdem sollte man sich und dem Ohr Ruhepausen gönnen.

Hörgeräte sind schon heute wie kleine Kopfhörer

Levi Penell lobt derweil auf TikTok weiter seine Hörgeräte: „Egal, wo du bist, du hast immer eingebaute Kopfhörer dabei.“ Und er nennt Vorteile, die selbst Hörgeräteakustikern neu sein dürften: „Es gibt halt auch kein passiv-aggressiveren Move als mitten im Gespräch die Hörgeräte rauszunehmen. Stell dir vor, dein rassistischer Onkel hetzt wieder gegen Ausländer und du ziehst dir mitten im Gespräch das Hörgerät vom Ohr. Gibt es einen subtileren Weg jemanden mitzuteilen, dass man auf seine Meinung einen F*** gibt?“

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