Hagen. Hier der Rollator, da das E-Bike: Sehr viele Senioren nutzen die zwei höchst unterschiedlichen „Verkehrsmittel“. Wo Gefahren lauern.
Bevor Annerose, 83, eine Antwort auf ihre Frage erhält, wie sie denn am besten in einen Bus einsteigt – „erst der Rollator oder erst ich?“ –, steht die Bewältigung eines Hindernis-Parcours auf dem Programm. Mit ihrem neuen Rollator.
Also, sicheren Stand einnehmen, Rollator zu sich kippen, nach vorne schieben, Stufe hoch, Handbremse anziehen, Stufe runter, weiter über verschiedene Untergründe, dann über die Buckelpiste, schließlich wieder eine Stufe hoch, „Achtung“, ruft Rollator-Trainer Ulrich Grunwald, „da sind Löcher“. Ein letzter Schritt, geschafft. „Aha, toll“, sagt Annerose. Es ist Neuland für sie, die ihren neuen, roten Rollator „ein paar Wochen im Keller stehen“ ließ, weil sie ihn nicht nutzen wollte. Heute aber hat sie ihn mitgebracht. Zum Seniorentag der Polizei.
Etwa 40 Senioren werden laut Polizei am Ende des Tages die vierstündige Veranstaltung in Hagen besucht haben, welche erstmals angeboten wurde. Mit Rollator-Parcours, Pedelec-Simulator, Lehrvideo, Dunkelkammer, zudem Kaffee (ein Euro) und Kuchen (1,50 Euro). Klingt vielleicht nach einer Spielerei, hat aber einen ernsten Hintergrund.
Weil die Zahl der Pedelec-/E-Bike-Unfälle mit Beteiligung von Senioren in Nordrhein-Westfalen in die Höhe geschossen ist, bietet die Polizei Präventionsveranstaltungen für Personen ab 60 Jahre an. Das Ziel: Gefahren im Straßenverkehr – ob mit dem Fahrrad, Rollator oder zu Fuß – erkennen und vermeiden.
Fast 100 Prozent mehr Unfälle
Der erste Interessierte soll an diesem Morgen bereits um 9.30 Uhr vor der Tür gestanden haben, eineinhalb Stunden vor Beginn. Nun ist es 13:39 Uhr, und die Polizeipräsidentin trifft am Veranstaltungsort in Hagen ein, der den – heute irreführenden – Namen trägt: Jugendverkehrsschule. Hier werden sonst Schüler von Polizei und Verkehrswacht auf die Teilnahme mit Fahrrad am Straßenverkehr vorbereitet. Diesmal aber ist eine andere Altersgruppe im Fokus: die Senioren.
Die nehmen immer länger am Straßenverkehr teil, weil die Lebenserwartung steigt, seien eine „vulnerable Gruppe“, sagt Hagens Polizeipräsidentin Ursula Tomahogh, deren Präsenz die Bedeutung der Veranstaltung und des Anliegens unterstreichen soll.
„Hier sind Unfälle nicht gänzlich unerwünscht.“
Die Zahl der Pedelec-Unfälle „mit Personenschaden“, wie das im Amtsdeutsch heißt, ist in NRW zwischen 2019 und 2023 deutlich gestiegen, von 2746 auf 6798. 2022 lag die Zahl sogar noch höher als im Vorjahr, bei 6942, wie das Statistische Landesamt mitteilt. Ähnlich die Entwicklung bei der Zahl der getöteten oder verletzten Senioren, die mit einem Pedelec an einem Unfall beteiligt waren. Hier stieg die Zahl von 992 auf 1.886. Eine Zunahme um fast 100 Prozent.
Hier versuchen Polizei und Verkehrswacht, mit dem Seniorentag anzusetzen.
Voraussschauendes Fahren
Martin Krimmel, Verkehrssicherheitsberater der Hagener Polizei, betreut zur Mittagszeit eine Seniorin am Pedelec-Simulator. Das Rad, umgangssprachlich auch E-Bike genannt, steht in einer Garage mit dem Hinterrad auf einer Rolle, ist fest verankert, davor ein großer Bildschirm.
Polizist Krimmel führt die Zunahme der Unfälle unter anderem darauf zurück, dass sich der eine oder andere Senior nach längerer Fahrrad-Pause ein E-Bike – die im Trend liegen – zulege, Geschwindigkeit und Handling der mit einem elektrischen Antrieb ausgestatteten Drahtesel jedoch unterschätze. „Wenn Sie langsam fahren, ist die Unfall-Wahrscheinlichkeit geringer“, gibt Krimmel der Dame am Simulator noch mit auf die virtuelle Fahrradtour durch ein Wohngebiet. Und: „Hier sind Unfälle nicht gänzlich unerwünscht.“ Sein Wunsch ist ihr Befehl.
Von rechts tritt plötzlich ein (virtueller) Passant mit Hund auf die Straße. Kollision. „Falsche Reaktionszeit“ meldet erst das System, „wieder ein Unfall“ kurz darauf dann Krimmel. Der dritte (virtuelle) Crash ereignet sich an einer Bus-Haltestelle, als eine Passantin ohne zu gucken auf die Straße und vor das E-Fahrrad läuft. Zehn solcher Szenarien haben sie im Simulator parat, „es geht immer ums vorausschauende Fahren“, erklärt Krimmel, „gerade bei Senioren, die eine andere Reaktionszeit haben“.
Pedelec-Unfälle: Der Blick auf die Region
Die Kreispolizeibehörde des Hochsauerlandkreises verzeichnete im Vorjahr einen „leichten Rückgang“ der Verkehrsunfälle mit Radfahrern (von 240 auf 229), der überwiegende Teil der verunglückten Radfahrer sei mit einem Pedelec unterwegs gewesen. Die Zahl dieser Verunglückten lag bei 110 Personen (2022: 106) und war damit „nach dem deutlichen Anstieg in den letzten Jahren anhaltend hoch“, so die HSK-Polizei. 2019 hatte die Zahl der Pedelec-Verunglückten bei 58 gelegen. Die Zahl der mit Pedelec verunglückten Senioren stieg zwischen 2019 und 2023 von 16 auf 29 (2022: 30).
Im Ennepe-Ruhr-Kreis nahm die Zahl der Pedelec-Unfälle zwischen 2019 und 2023 von 22 auf 54 zu, ähnlich die Zahl der Unfälle mit Beteiligung von Senioren (Personen ab 65 Jahre), hier ging es von 5 auf 12 (2022: 18).
Im Kreis Olpe stieg die Zahl der Pedelec-Unfälle im genannten Zeitraum von 19 auf 44, ebenso die der mit einem Pedelec verunglückten Senioren (von 0 auf 11).
In Hagen erhöhte sich die Zahl der Pedelec-Unfälle von 16 auf 25 (2022: 30), die der mit Pedelec verunglückten Senioren von 0 auf 4 (2022: 6).
Die Polizei des Märkischen Kreises teilt mit, dass sich der Trend der Vorjahre fortsetze. Dort nahm die Zahl der Pedelec-Unfälle binnen vier Jahren von 32 auf 106 zu (2022: 131). Die Zahl der mit Pedelec zu Schaden gekommenen Senioren stieg von 8 auf 13 (2022: 23).
Im Kreis Siegen-Wittgenstein stieg die Zahl der Pedelec-Unfälle von 25 auf 59, die Zahl der Unfälle von Senioren mit Pedelec von 4 auf 5 (2022: 15).
In Dortmund erhöhte sich die Zahl der Pedelec-Unfälle zwischen 2019 und 2023 von 33 auf 134. Die Zahl der Senioren, die dabei verletzt oder getötet wurden, stieg von 2 auf 21 (2022: 31).
Im Pedelec-Parcours geht es derweil um das Handling der (mitzubringenden) E-Bikes – abbiegen, ausweichen, abbremsen, Spur halten –, im Dunkelraum und bei einem Lehrvideo um die Sichtbarkeit und Sichtweite bei Dunkelheit (Kleidung mit Reflektoren wird empfohlen). An einer weiteren Station, an der ein Lkw der Müllabfuhr vorgefahren ist, werden der tote Winkel und die Gefahren für Fußgänger und Radfahrer beim Abbiegen thematisiert. Auch die Kriminalpolizei ist mit einem Stand vertreten, warnt vor Einbrechern, Trickbetrügern, Taschendiebstahl, unter anderem mit der Broschüre: „Im Alter sicher leben.“ Wenn die Zielgruppe ohnehin da ist...
Training „sensibilisiert“
Der Andrang bei der Auftakt-Veranstaltung ist insgesamt überschaubar, was möglicherweise auch damit zu tun hat, dass die Zahl der Fahrradunfälle in Hagen vergleichsweise niedrig ist (siehe Infobox) und die Stadt mit ihrer hügeligen Topographie sowie Straßengestaltung nicht als die fahrradfreundlichste gilt. Annika Aufdemkamp ist dennoch mit der Premiere zufrieden. Die Polizistin der Verkehrssicherheitsberatung hat den Seniorentag initiiert, möchte ihn im Herbst wiederholen.
„Das sensibilisiert, gerade in unserem Alter, in dem man nicht mehr so reaktionsschnell ist““
„Wir haben in Hagen zwar zum Glück kaum Unfälle mit Senioren, aber man muss ja nicht warten, bis was passiert“, sagt Aufdemkamp.
Die Präventionsarbeit kommt bei den Teilnehmern gut an, etwa bei Barbara Middendorf (69) und Frank Lubetzki (68). Das Paar aus Hagen gibt an, bereits seit Jahren Pedelec zu fahren, für sie vergrößern die E-Fahrräder ihre Mobilität im Alter. Sie fühlen sich sicher im Sattel, sind heute trotzdem zum Seniorentag gekommen.
„Man lernt immer dazu, etwa das mit dem toten Winkel“, sagt Barbara Middendorf. Viele Menschen sollten ein Verkehrssicherheitstraining absolvieren, finden die beiden, denn „das sensibilisiert, gerade in unserem Alter, in dem man nicht mehr so reaktionsschnell ist“.
Weitere Themen aus der Region:
- Merz und Co.: So dürfte die Wahl rund ums Sauerland ausgehen
- Neue Discos: Warum das Sauerland wieder in Feierlaune ist
- A-45-Brücke: Wagemeyer freut sich über Verbleib von Wissing
- Sauerland: Hier kümmern sich Roboter und KI um das liebe Vieh
- Fall Merida: Pferdebesitzer im Sauerland in Sorge
- Wie dieser Mann Schlösser und Burgen im Sauerland verkauft
- Bürger zum Ampel-Aus: „Das war ungerecht von Scholz“
- Sympathie in Südwestfalen für Wahl: „Trump ist ein Macher“
- Serien-Brandstiftterin aus dem Sauerland: So lautet das Urteil
- Wie ein Roboter aus Siegen Menschen beim Altern helfen soll
- Merida ist wieder da – wieso bleibt ein Rätsel