Witten. Es soll Wittens einziges richtiges Hochhaus sein. Voraussetzung sind mindestens 23 Meter Höhe. Ist es eine gute Adresse oder doch eher Ghetto?

  • 40 Meter hohe Vonovia-Komplex ist in die Jahre gekommen
  • Es gibt 74 Wohnungen, keine Sprechanlage
  • Mieterin: „Ganz Europa wohnt hier, auch Asien“

Das höchste Haus Wittens ist schon von weitem zu erkennen. 13 Stockwerke ragen in den Himmel von Heven. Baurechtlich und brandschutztechnisch gelten Gebäude ab 23 Metern Höhe als Hochhäuser. Der etwa 40 Meter hohe Vonovia-Komplex ist schon sichtlich in die Jahre gekommen. So was wie Grünspan hat sich unten auf die helle Fassade gelegt. Wir wollen wissen, wer dort eigentlich wohnt. Ein Ortstermin.

Links und rechts vom Eingang empfangen uns jeweils 37 Namensschilder und Klingeln. 74 Wohnungen, keine Sprechanlage. Dafür ein großer Schriftzug über der Tür: Schulze-Delitzsch-Straße 23. Als wäre das Haus zu übersehen. Ein Gebäuderiese, der in einer Großstadt wie Dortmund vermutlich kaum auffiele. Aber im beschaulichen Heven?

Mehr zum Thema

Dabei gibt es einige höhere Flachbauten in der Siedlung des Bochumer Wohnungskonzerns oben am Hellweg. Aus dem 13. Stock betrachtet, wirken aber selbst die vier- bis achtgeschossigen Nachbargebäude geradezu winzig. Vor dem Hochhaus treffen wir morgens Heidi Bechmann, die gerade einkaufen gehen will. Längere graue Haare lugen unter ihrem flotten Käppi hervor. Über dem grünen Pullover trägt sie eine blaue Weste. Die 84-Jährige schiebt ein Wägelchen hinter sich her. Auf den Mund gefallen ist die modische alte Dame nicht.

Das Hochhaus an der Schulze-Delitzsch-Straße 23 in Witten-Heven ist nicht zu übersehen.
Das Hochhaus an der Schulze-Delitzsch-Straße 23 in Witten-Heven ist nicht zu übersehen. © FUNKE Foto Services | Uwe Möller

„Gucken Sie mal darunter. Da schmeißen die Männer immer ihre Kondome hin“, sagt sie und zeigt auf eine Stelle vorm Haus, das ihrem Wissen nach 1966 von Thyssen erbaut wurde. „Richtig eklig“ findet Bechmann das. „Eine Schmuddelbude ist das hier.“ Im Gebüsch neben den Mülltonnen liegt Abfall. „Hier haben die Ratten den Kindern schon aus der Hand gefressen. Ich dachte, ich krieg zu viel. Aber was soll man machen.“ Gut, dass sie davon in ihrer Wohnung oben im achten Stock nicht viel mitbekommt. Denn eigentlich lebt die Seniorin gerne hier.

Vor zehn Jahren ist sie eingezogen, weil das Elternhaus in Herbede verkauft werden musste. Die ehemalige Kurierfahrerin von Taxi Drees hat den Umzug nie bereut. „Mir gefiel die Zusammensetzung der Räume.“ Und der Balkon. Er ist einer der wenigen, wo von unten aus Pflanzen zu sehen sind. „Ich habe keine Gardinen vorm Fenster“, sagt Heidi Bechmann, „lieber Blumen.“ Ihre 58 Quadratmeter erstrecken sich über die halbe Etage. Bad, Küche, Wohnzimmer - alles liegt nebeneinander. Ob sie eine Badewanne hat? „Leider“, sagt die Wittenerin, „ich hätte gern was anderes. Wenn man alt wird, werden die Beine und der Popo schwerer.“

Um die 100 Menschen leben in dem Wittener Hochhaus

Die Mittachtzigerin zahlt ungefähr 600 Euro Warmmiete. Sie freut sich, dass „jetzt viel gemacht wird“, und erwähnt zum Beispiel den neuen Aufzug. An die 100 Menschen lebten im Haus. Es sei sehr anonym, schon wegen des Sprachgewirrs. „Ganz Europa wohnt hier, auch Asien.“ Viele würden von der Stadt „reingesetzt“, auch Menschen aus der Ukraine. „Aber die sind unauffällig.“

Wir fahren in die oberen Stockwerke. Die Flure: grau und gesichtslos, die Böden manchmal schmutzig, vor einer Tür stehen Abfallsäcke. Wir schellen bei einem Ehepaar, dessen Namen wir nicht nennen sollen. „Gucken Sie mal hier“, zeigen sie auf Löcher unten vor ihrer Wohnungstür. „Da können die Mäuse rein.“ Eine „Katastophe“ sei das. „Es kommen fremde Leute, schreien, knallen die Türen. Junge Leute gehen nach oben, um zu rauchen.“ Die Leitung für das Waschbecken im Bad sei verstopft. Wenn sie was anderes fänden, würden sie sofort ausziehen. „Diese Gegend wird Ghetto genannt.“ Doch es gibt auch andere Stimmen.

Klingel funktioniert seit zwei Jahren nicht

Im zehnten Stock treffen wir Valencina Gluschenko, die gerade von ihrer Nachtschicht als Altenpflegerin kommt und deren Klingel schon seit zwei Jahren nicht funktioniert.. „Aber mir gefällt die Wohnung“, sagt die 65-Jährige. Sie stammt aus Russland und muss noch ein Jahr arbeiten. Die Sonne scheint in ihre aufgeräumte Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung. Hellbraune Möbel, Einbauküche mit grünen Farbtupfern, ein großer Spiegel im Flur, eine Stehlampe und eine Palme im Wohnzimmer – „für mich ist das gut“, sagt sie.

Valencina Gluschenko fühlt sich wohl in ihrer Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung im zehnten Stock.
Valencina Gluschenko fühlt sich wohl in ihrer Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung im zehnten Stock. © FUNKE Foto Services | Uwe Möller

Wenn ihr Sohn mit seiner Familie aus Siegen kommt, kann er auf der Schlafcouch im Wohnzimmer übernachten. Valencina hat die Wohnung vor neun Jahren über eine Arbeitskollegin gefunden, die damals schon im Haus wohnte. Manchmal trinken sie zusammen Kaffee oder gehen spazieren. Die Aussicht vom Balkon ist herrlich. Nebenan hört man die Kinder von der Hellwegschule. Große Pause. „Ich mag es so. Alles muss hell sein“, sagt die alleinlebende Frau.

Im Hochhaus braucht man ein dickes Fell

Alleinerziehend ist Karolina (24), die wir unten vor dem Haus treffen. Ihr jüngstes Kind (sechs Monate) liegt noch im Kinderwagen, die anderen beiden, drei und vier Jahre alt, flitzen auf Minirädern vor ihr her. „Eigentlich ist es gut“, sagt die gebürtige Polin, die 65 Quadratmeter im Erdgeschoss bewohnt und die „Hilfsbereitschaft“ der Mitarbeiter lobt, wenn man bei der Vonovia anruft. Obwohl hier so viele Menschen leben, sei es recht ruhig. „Wegen der Kinder“ sucht sie aber eine größere Wohnung, „wenn mal was im Haus frei wird“. Denn sie möchte hier bleiben. Schule, Kita, Geschäfte, Ärzte, Sport- und Spielplätze – alles sei in der Nähe.

+++Folgen Sie jetzt auch dem Instagram-Account der WAZ Witten+++

Ein Mann versucht, sein Moped zu starten. Es stinkt, es knattert, aber das scheint niemanden zu stören. Wer im Hochhaus lebt, braucht ein dickes Fell. Im Sommer kann es schnell mal lauter werden. „Wo Kinder sind, wird auch mal gebrüllt. Da muss man tolerant sein“, sagt Heidi Bechmann, die Rentnerin aus dem achten Stock. „Da kann ich mich nicht als Oma hinstellen, die immer querschießt.“ Sagt‘s und verschwindet mit ihrem roten Einkaufstrolley. Gegenüber hat die neue Zeitrechnung schon begonnen. Vonovia lässt die Nachbarhäuser energetisch sanieren und Solarpanele anbringen. Hausnummer 23 muss wohl noch warten.

Mehr Nachrichten aus Witten lesen Sie hier.

Zur Info: Diesen Text haben wir erstmals am 8. März veröffentlicht - halten ihn aber für sehr lesenswert!