Mülheim. „Wenn man gerufen wird, ist es nicht schön.“ Seit 25 Jahren gibt es die Notfallseelsorge in Mülheim. Helfer berichten von ihren Erlebnissen.

Notfallseelsorgerin werden? Für Karin Neumann (46) war es kein leichter Schritt. „Wenn man gerufen wird, ist es nicht schön“, wusste die Mülheimerin. „Ich habe lange gehadert, ob ich solchen Situationen gewachsen bin.“ Nun gehört sie seit etwa vier Jahren zum Team und weiß, dass sie stark genug ist.

Genau wie Siggi Hardt (55), der schon seit 2016 dabei ist. Ein Arbeitskollege auf der Friedrich Wilhelms-Hütte, Betriebsrat wie er und bereits Notfallseelsorger, habe ihn ermutigt. „Er hat gesehen, wie ich mit Leuten umgehe, und mich gefragt, ob das nicht was für mich wäre.“ Er lag richtig. Siggi Hardt, von Beruf Handformer, Karin Neumann, Erzieherin – beide verstärken als Ehrenamtliche die Mülheimer Notfallseelsorge, die am 1. Juni ihr 25-jähriges Bestehen feiert.

Mülheimer Notfallseelsorge feiert 25-jähriges Jubiläum

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Ihre Mission: „Erste Hilfe für die Seele“, wie Pfarrer Guido Möller es gerne formuliert, der die Mülheimer Notfallseelsorge seit 2007 leitet. Er gehörte auch zu den Ersthelfern beim tödlichen Unglück auf der Duisburger Love Parade 2010, einer für ihn und alle anderen Beteiligten unvergesslichen Katastrophe.

Auch nach dem Hochwasser im Juli 2021 waren Mülheimer Notfallseelsorger im Einsatz. Einige aus dem Team halfen nicht nur an der Ruhr, sondern auch in den Katastrophengebieten im Rhein-Erft-Kreis.
Auch nach dem Hochwasser im Juli 2021 waren Mülheimer Notfallseelsorger im Einsatz. Einige aus dem Team halfen nicht nur an der Ruhr, sondern auch in den Katastrophengebieten im Rhein-Erft-Kreis. © Kirchenkreis an der Ruhr

Die meisten Einsätze der Notfallseelsorger sind weitaus kleiner, persönlicher. Alarmiert werden sie ausschließlich über die Leitstelle der Mülheimer Feuerwehr. Unglückliche, verzweifelte Menschen können sie nicht direkt rufen – im Gegensatz zur Telefonseelsorge, die man rundum die Uhr unter 0800-1110111 und 0800-1110222 erreicht. Bei bestimmten Einsatzstichworten werden die Notfallseelsorger zeitgleich mit dem Rettungsdienst alarmiert: „Person unter Zug“ beispielsweise, „Person springt“. Wenn die Polizei eine Todesnachricht überbringen muss, kommen sie hinzu. Oder wenn jemand zu Hause verstorben ist, in Gegenwart von Angehörigen.

Ehrenamtliche: „Man kann einfach die Hand halten“

„Diese Einsätze berühren einen besonders“, sagt Karin Neumann, die Ehrenamtliche. Ein alter Mann stirbt, liegt noch in der Wohnung, irgendwann wird der Bestatter anklingeln. Die Witwe bleibt zurück. „Die Frau wäre alleine, wenn wir nicht da wären. Die Leute vom Rettungsdienst haben nicht die Zeit. Man kann einfach die Hand halten, vielleicht gemeinsam den Verstorbenen zudecken, erklären, dass es auch normal ist, wenn die Kripo kommt.“

Vor wenigen Wochen wurde sie zur Notschlafstelle an der Kanalstraße gerufen, früh um sechs. „Dort musste ein Bewohner reanimiert werden, und die Jungs haben sich alle einen Riesen-Kopf gemacht. Ob sie auch alles richtig gemacht haben.“ Die Aufregung unter den Männern war riesig. Die Notfallseelsorgerin stand als Ansprechpartnerin bereit. Ihr Kollege Siggi Hardt sagt: „Wenn man bei einem Todesfall ins Haus kommt, sind alle gleich. Egal, ob arme oder reiche Leute: Es geht darum, ihnen zwei, drei Stunden lang Stabilität zu geben. Der Rettungsdienst kann seelische Schmerzen nicht behandeln.“

Explosion in Ratingen: Mülheimer Notfallseelsorger standen sofort bereit

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Auch nach der furchtbaren Explosion am Donnerstag in Ratingen, die offenbar ein vielfacher Mordversuch war, wurden die Mülheimer Notfallseelsorger alarmiert. Vier von ihnen waren bereits im Auto unterwegs, nur noch wenige Minuten vom Unglücksort entfernt, als der Einsatz abgebrochen wurde. Es waren bereits genügend Helfer vor Ort. Die Mülheimer kehrten um.

Dennoch lobt Feuerwehrsprecher Florian Lappe angesichts der Ratinger Katastrophe das starke Engagement der örtlichen Notfallseelsorger: „Sofort standen vier, fünf Leute bereit, um dort hinzufahren.“ Im Ernstfall brächten sie erhebliche Entlastung: „Wenn die violetten Jacken am Einsatzort auftauchen, fallen den Rettungskräften oft Steine vom Herzen. Denn dann müssen sie sich nicht mehr auf die Angehörigen konzentrieren.“

Attacken gegen die „Blaulichtfamilie“ werden immer brutaler

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Dass die Einsatzkräfte in Ratingen offenbar gezielt attackiert wurden, „das lässt einen nachdenken“, sagt der Ehrenamtliche Siggi Hardt. Angriffe gegen Rettungskräfte würden immer häufiger, immer brutaler, „und jetzt hat jemand Sprengstoff benutzt, um Mitglieder der Blaulichtfamilie zu verletzen. Da überlegt man schon: Das könnte auch mir passieren“.

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Siggi Hardt und die anderen Freiwilligen werden sich so schnell nicht abschrecken lassen. Personell sei die Mülheimer Notfallseelsorge ordentlich aufgestellt, berichtet Pfarrer Guido Möller, „wir können nicht klagen“. Zulauf sei da, Menschen seien interessiert an dieser Arbeit, das habe sich auch beim jüngsten Blaulicht-Tag in der Mülheimer City gezeigt, wo sich das Team der Notfallseelsorge mit einem Infostand präsentierte. „Unser Problem ist, die Wochentagsdienste zu besetzen“, sagt Möller, „denn die Ehrenamtlichen sind oft berufstätig. Und die Pfarrerinnen und Pfarrer, die diese Dienste früher gefüllt haben, werden immer weniger.“

Zusammenschluss mit der Notfallseelsorge Essen und Mülheim geplant

Ein Strukturwandel vollzieht sich. Als die Mülheimer Notfallseelsorge 1998 gegründet wurde, bildeten zunächst ausschließlich Geistliche diesen Kreis, zeitweise 26 Personen. Seit rund zehn Jahre wirken auch Ehrenamtliche mit. Und inzwischen stellen sie eindeutig die Mehrheit: Rund 40 Köpfe umfasst das Team, darunter nur noch elf Pfarrerinnen und Pfarrer. Von den Ehrenamtlichen werde aber weiterhin erwartet, dass sie einer christlichen Kirche angehören. Der Altersschnitt liege bei 56 Jahren, sagt Guido Möller. Absehbar sei auch vorgesehen, dass sich die Notfallseelsorge dreier Nachbarstädte zusammenschließt, lässt der Pfarrer durchblicken: „Mülheim, Essen und Oberhausen. MEO. Wir sind auf dem Weg.“

Festgottesdienst in der Feuerwache

Zum 25-jährigen Bestehen der Notfallseelsorge in Mülheim findet am Donnerstag, 1. Juni, um 18.30 Uhr ein Festgottesdienst in der Fahrzeughalle an der Hauptfeuerwache Broich statt. Die Predigt hält Superintendent Gerald Hillebrand, musikalische Begleitung liefert die Band Nearly Serious.

Am Mittwoch, 31. Mai, um 18.30 Uhr gibt es ebenfalls in der Hauptfeuerwache einen Fachvortrag von Prof. Dr. Harald Karutz: „Psychosoziale Notfallversorgung in Deutschland – und die Notfallseelsorge in Mülheim an der Ruhr: Rückblick, Reflexion und Ausblick“. Dort kann man sich auch über die Arbeit der Notfallseelsorger näher informieren.

Beide Veranstaltungen sind öffentlich. Um Anmeldung wird gebeten bis zum 19. Mai bei Julia Quindeau unter 0208/3003-135 oder .

25 Jahre Notfallseelsorge in Mülheim, rund 100, 110 Einsätze jedes Jahr: Tausenden wurde schon die Hand gehalten. „Viele traurige Erlebnisse sind damit verbunden“, sagt Feuerwehrsprecher Florian Lappe, „aber viele Menschen sind auch gut durch schlimme Stunden geführt worden.“