Mülheim. Der Loveparade-Einsatz wirkt bis heute bei der Feuerwehr nach: Bereitschaftskräfte aus Mülheim standen vor dem Tunnel, als die Panik ausbrach.
Zehn Jahre ist es her, als sich an einem lauen Julinachmittag im benachbarten Duisburg die Katastrophe ereignete: Einsatzkräfte der Mülheimer Feuerwehr waren mit vielen Rettungskräften hautnah dabei. Mit einem Routineeinsatz hatte man gerechnet. Es kam bekanntlich anders: Die Loveparade begann als fröhliches Musikfest und endete in einer Katastrophe mit 21 Toten und 652 Verletzten. Der Einsatz und die Erfahrungen daraus haben bis heute Auswirkungen auf die Arbeit der Mülheimer Feuerwehr.
Mit kleinen Verletzungen hatte man gerechnet, mit Kreislauf- und Alkoholproblemen
Thomas Franke, Ärztlicher Leiter des Rettungsdienstes der Mülheimer Feuerwehr, und Thorsten Drewes, heute Feuerwehrsprecher, waren im Einsatz an jenem Samstag im Juli: Notarzt Franke direkt vor Ort am Tunnel, Drewes auf der Mülheimer Hauptfeuerwache, die sich damals noch an der Aktienstraße befand.
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Wie bei Großveranstaltungen üblich, erzählt Drewes, waren aus vielen Städten etliche so genannte Patiententransportzüge – PTZ – der Feuerwehr in Bereitschaft, auch aus Mülheim. Sechs Mülheimer Fahrzeuge, besetzt mit Rettungskräften, medizinischem Personal, Feuerwehrleuten, Führungspersonal, wartete am Zoo, erinnert sich Drewes. „Wir haben mit kleineren Verletzungen gerechnet, Kreislauf- und Alkoholproblemen“, berichtet Notarzt Franke. Dass man bei solchen Großveranstaltungen mehrere hundert Menschen behandeln müsse, sei eigentlich ganz normal.
„Der Mülheimer Zug wurde schon vor der Katastrophe an den Tunneleingang gerufen, weil man damit rechnete, dass es dort viele Alkoholisierte und Leute mit Kreislaufproblemen geben könnte“, so Thorsten Drewes. Es sei reiner Zufall gewesen, dass die Mülheimer Retter mit ihrem PTZ in der ersten Reihe standen: „Gerade, als der Mülheimer Zug dort ankam, ist im Tunnel die Panik ausgebrochen.“
Mülheimer Notarzt kletterte mit zwei Kollegen in den Tunnel
Duisburg, zehn Jahre nach der Loveparade-Katastrophe
Die Meldung von der Panik im Tunnel erreichte Thomas Franke im Auto, er war mit zwei anderen Ärztlichen Leitern aus Duisburg und Bad Bentheim zur Beobachtung der Loveparade vor Ort. Über die A 59 erreichten sie den Tunnel, kletterten hinunter, um zu helfen. „Der Tunnel war noch voller Menschen“, erinnert sich Franke. „Die Ströme der Menschen zu koordinieren, das war das Problem.“
Kein Funk im Tunnel, aber Thomas Franke konnte per Handy die Leitstelle der Mülheimer Feuerwehr informieren. Alle drei Ärzte trugen ihre Feuerwehruniform, so Franke, das half bei der Verständigung mit der Polizei und den anderen Rettern. „Die Polizei hat eine Spur geschaffen, damit die PTZ in den Tunnel konnten“, so Franke. Am Ende lagen überall Verletzte und Tote. „Und oben auf der Plattform noch 20.000 Feiernde, die von gar nichts wussten.“
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Erst rund zwei Stunden später, bei der Untersuchung der Toten gemeinsam mit dem Duisburger Kollegen, sei bei ihm das schreckliche Ereignis so richtig im Bewusstsein angekommen, erklärt Notarzt Thomas Franke. Thorsten Drewes ergänzt: „Zu Beginn eines Einsatzes ist man wie in einem Tunnel, man ist total fokussiert“. Man müsse funktionieren in so einer Situation, ergänzt Franke. „Da bleibt keine Zeit für Emotionen.“ Die kommen erst später – und sie bleiben: „Nach über 10.000 Notfalleinsätzen ist die Loveparade das prägendeste rettungsdienstliche Erlebnis, das ich hatte“, sagt Thomas Franke noch heute.
Die Mülheimer Erfahrungen aus dem Einsatz waren im ganzen Land gefragt
Die Erfahrungen der Mülheimer aus dem Einsatz waren gefragt bei Rettungskräften und Feuerwehrleuten landesweit. „Das Interesse war damals sehr groß, wie man solche Einsätze bewältigt“, so Franke. Hochschulen und Akademien der Polizei fragten um Vorträge an: „Wir sind geradezu durch das Land getingelt“. Solche großen Einsätze seien immer auch wichtig, sagt Drewes, um festzustellen, was man künftig noch ändern, noch verbessern könnte. „Im Nachhinein habe wir festgestellt, dass unsere Rettungskräfte hervorragend aufgestellt waren“, sagt Feuerwehrsprecher Drewes heute.
Loveparade 2010 – Die Geschichte einer Tragödie
Am 24. Juli 2020 jährt sich die Loveparade-Tragödie in Duisburg zum zehnten Mal. 21 junge Menschen kamen dabei ums Leben. Doch wie und warum kam es bei dem Techno-Festival zum tödlichen Gedränge? Wieso wurden die Sicherheitsbedenken ignoriert? Und wie gehen die Betroffenen heute mit dem Erlebten um? Der Podcast geht diesen Fragen nach.
Ein Podcast ist quasi eine Reportage zum Hören, abrufbar über das Internet (waz.de/loveparade) und Streaming-Apps wie z.B. Spotify, Apple Podcasts, Audio Now oder Deezer.
Ab dem 24. Juli erscheinen fünf Folgen.
Was hat sich geändert bei den Einsatzkräften seit dem Einsatz 2010 bei der Loveparade? „Man hat überall die MANV-Pläne aus der Schublade geholt und geprüft“, sagt Drewes. MANV steht für „Massenanfall von Verletzten“, eine medizinische Not-Situation, auf die Rettungskräfte zum Beispiel nach Eisenbahnunglücken oder Bombenattentaten gut vorbereitet sein müssen. Ein Ereignis wie die Loveparade oder auch der Terroranschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz sei immer ein Anlass, noch einmal genau auf die MANV-Pläne zu schauen, erklärt Feuerwehrsprecher Drewes. „Welches Material, welches Personal benötigen wir zusätzlich?“
NRW-Städte haben sich auf „Gemeinsames Kompendium Rettungsdienst“ verständigt
Seit dem Terroranschlag Weihnachten 2016 in Berlin ist zum Beispiel auf allen Rettungsfahrzeugen in ganz NRW eine „Tasche für besondere Einsatzlagen“ mit dabei, berichten Drewes und Franke. Mit dem Inhalt können etwa mehrere Schwerstverletzte, die Gliedmaßen verloren haben, versorgt werden. Seit der Love-parade-Katastrophe haben sich zudem viele NRW-Städte auf ein „Gemeinsames Kompendium Rettungsdienst“ verständigt, was auch die Trauma-Versorgung Verletzter oder Verunglückter beinhaltet. Das Kompendium wird jedes Jahr neu überarbeitet.
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Der Einsatz von Notfallseelsorgern im Katastrophenfall ist längst selbstverständlich. „15 bis 20 Notfallseelsorger waren damals mit im Tunnel“, erinnert sich Thomas Franke. Auch für die Retter waren die Notfallseelsorger damals ansprechbar, sagt Franke, am gleichen Tag noch und bis tief in die Nacht.
Fünfteiliger Podcast über die Loveparade-Katastrophe in Duisburg
Doch wie und warum kam es bei dem Techno-Festival zum tödlichen Gedränge? Wieso wurden die Sicherheitsbedenken ignoriert? Und wie gehen die Betroffenen heute mit dem Erlebten um? Der Podcast geht diesen Fragen nach. Ein Podcast ist quasi eine Reportage zum Hören, abrufbar über das Internet auf waz.de/loveparade und Streaming-Apps wie zum Beispiel Spotify, Apple Podcasts, Audio Now oder Deezer.
Ab dem 24. Juli erscheinen fünf Podcast-Folgen.
- Hier geht es zum ersten Teil: Loveparade-Podcast: „Da unten sterben Menschen“