Gladbeck. Drei Schwestern aus Gladbeck offenbaren sich: So prägt Armut den Alltag in ihren Familien. Und das, obwohl die Männer eine feste Arbeit haben.
Was ist ein armer Mensch? Derjenige, der keinen Job hat? Diejenige, die während ihres Studiums finanziell nicht über die Runden kommt? Ältere Semester mit kleiner Rente? Sie alle, die sie hier anstehen an der Tafel in Gladbeck – und noch zig Menschen mehr. Es gibt viele Gründe, die Männer, Frauen und Kinder dazu bewegen, sich hier gespendete Lebensmittel abzuholen. Armut ist ein Tabu-Thema, doch drei Schwestern geben der WAZ bereitwillig Einblick in ihre Lage. Und sie benennen Risikofaktoren.
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Die Situation von Funda Süner (40), Tülay Süner (38) und Zahide Diyapoglu, geborene Süner (39), scheint auf den ersten Blick die vieler Menschen aus dem Mittelstand in Gladbeck zu sein: Sie haben eine solide Ausbildung, sind verheiratet, die Männer gehen oder gingen einer geregelten Arbeit nach, Kinder gehören ebenfalls zu den Familien der drei Schwestern. Alles wie bei unzähligen anderen in der Stadt.
Gestiegene Kosten für die Lebenshaltung machen vielen Menschen in Gladbeck schwer zu schaffen
Also „normal“? Was immer das heißen mag. Ganz bestimmt dürfte es mittweilerweile verbreitet – und damit normal in Gänsefüßchen – sein, dass Geldsorgen keine Ausnahme mehr in der Bevölkerung sind. Preise für Nahrungsmittel und Lebenshaltungskosten haben einen Riesensatz nach oben gemacht, da sind große Sprünge für viele Menschen finanziell nicht drin. Das Problem ist in der Mitte der Gesellschaft, wie es Fachleute nennen, angekommen.
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Wie bei den drei Schwestern und ihren Familien. Funda Süner erzählt: „Mein Mann, der als Holzwerker angefangen hat, ist der Hauptverdiener bei uns.“ Sie selbst hat nach dem Abitur eine Ausbildung zur Handelsassistentin absolviert, ist dann aber zuhause geblieben. Verständlich, denn die 40-Jährige ist Mutter von sechs Kindern zwischen drei und 16 Jahren. „Das ist ein 24-Stunden-Job“, sagt die Gladbeckerin mit türkischen Wurzeln.
Aufgrund des Einkommens sei ihre Familie „wohngeldberechtigt“. Die 40-Jährige betont: „Wir beziehen keine Sozialhilfe. Da will ich auch nicht hin.“
Angesichts der explodierenden Kosten sei sie dankbar für das Angebot der Tafel. Schließlich will sie ihren Kindern mehr als Essen, Trinken, Klamotten und ein Dach über dem Kopf bieten. Dank der Spenden bleibt unterm Strich ein wenig mehr Geld im Portemonnaie. Teilhabe ihrer Kinder ist Funda Süner wichtig, beispielsweise die Mitgliedschaft in einem Verein.
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Nach der Corona-Zeit hätte das Problem angefangen, und „erst recht nach Ausbruch des Ukraine-Kriegs“ sei es größer geworden, meint Zahide Diyapoglu. Doch nicht nur aus materiellen Gründen – „die Lage hat sich definitiv verschärft!“ – ist das Trio froh über die Tafel, an der das Deutsche Rote Kreuz (DRK) in Gladbeck immer mehr Menschen versorgt – Tendenz steigend. Die Schwestern freuen sich über die sozialen Kontakte, für sie ist‘s ein Geben und Nehmen. Denn sie versorgen sich am mobilen Laden nicht nur mit Lebensmitteln, sondern verteilen diese auch, als Ehrenamtliche. „Wenn ich sehe, wie viele Menschen bedürftig sind, bin ich froh, ihnen eine Freude bereiten zu können“, so Funda Süner.
An ihrer Seite: ihre beiden Schwestern Tülay und Zahide. Ihnen erging es ähnlich wie der 40-Jährigen. Die Lebensumstände sind vergleichbar. Der Mann ist gelernter Autolackierer, hat bis vor kurzem als Matrose gearbeitet, so die zweifache Mutter und ausgebildete Medizinisch-technische Assistentin Tülay Süner. Fünf Kinder haben Zahide Diyapoglu und ihr Mann, der als Autolackierer die Brötchen verdient. Da muss bisweilen jeder Cent ein paarmal umgedreht werden, bevor er den Besitzer wechselt.
In den Familien wird‘s pekuniär eng bei nur einem Hauptverdiener, weiß auch Wilhelm Walter. Der DRK-Chef in Gladbeck und Kopf der Tafel auf vier Rädern: „Wegen zu geringen Einkommens gibt es unter anderem Wohngeld, aber keine Sozialhilfe.“ Die genannten Beispiele seien klassisch: „Da arbeitet jemand, aber es ist trotzdem zu wenig.“ Da klafft oft eine Lücke zwischen verdientem Geld und anfallenden Kosten: Hier liegt der Hase im Pfeffer. Für die Schwestern ist klar: „Kinder sind ein Armutsrisiko.“
Zahide Diyapoglu: „Ich bin sehr, sehr froh über die Unterstützung und auch über die Möglichkeit, als Freiwillige hier zu arbeiten.“ Die beiden Schwestern nicken bekräftigend zu diesen Worten. Tülay Süner fügt mit Nachdruck hinzu: „Was wäre, wenn uns das DRK nicht aufgefangen hätte? Großer Respekt, was es hier leistet!“
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Es stimmt die Schwestern traurig zu wissen, „wie viele Kinder ohne Frühstück in die Kita oder Schule gehen“. Lebensmittel sind kostspielig, erst recht Gesundes. Die Tafel hat, je nach Spendenaufkommen, Obst, Gemüse und sogar Bio-Eier im Sortiment. Selbst Blumen stecken Ehrenamtliche in Tüten und Taschen: Die Seele braucht hin und wieder ja auch Nahrung.
Es werden keine Lebensmittel verschwendet
Und eine Zweite-Wahl-Kiste, in der leicht angedötschte Produkte liegen, ist aufgestellt. „Daraus darf unsere Kundschaft zusätzlich etwas nehmen“, erklärt Wilhelm Walter. Gurken oder Paprika mit nicht so schönen Stellen? Nehmen die Schwestern trotzdem gerne, dann schneiden sie den Makel eben weg. Wilhelm Walter: „Es werden bei uns keine Lebensmittel weggeworfen oder verschwendet.“ Stimmt, sagt das Trio. Dafür sind die Artikel einfach zu wertvoll.
Darüber spricht man ... doch!
Depression, Insolvenz, Einsamkeit: Es gibt viele Themen, über die (öffentlich) nicht gerne gesprochen wird. Unter dem Titel „Darüber spricht man … doch!“ startet die WAZ Gladbeck eine neue Serie, um eben über diese Themen zu berichten.
In der Serie stellte die Redaktion etwa eine Alkoholabhängige und eine von Burnout betroffene Frau vor. Weitere Themen sind unter anderem: Drogenabhängigkeit und Schwangerschaftsabbruch.
Haben Sie Anregungen? Möchten Sie mit uns über ein vermeintliches Tabuthema sprechen, von dem Sie betroffen sind? Dann melden Sie sich per Mail an redaktion.gladbeck@waz.de oder unter 02043/299838.