Gladbeck. Zwei Gladbecker, ein Ziel: Peter Jarosch (69) und Fiete Nowoczin (17) im Dialog über Rechtsextremismus, Toleranz und Erinnerungskultur.
Tausende Menschen gehen in ganz Deutschland auf die Straße, auch in Gladbeck, um zu demonstrieren: gegen Rechtsextremismus, AfD, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus; für den Erhalt der Demokratie, Toleranz und Menschenwürde. Auch in Gladbeck gab‘s neulich eine Kundgebung. Peter Jarosch (69) engagiert sich seit Jahrzehnten gegen rechts, Fiete Nowoczin (17) ist relativ neu dabei. So unterschiedlich die beiden Gladbecker sind, im Gespräch stellt sich heraus: Vieles verbindet sie, da sind sie sich ganz nahe.
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Generationen kommen mit Jarosch und Nowoczin in einem Pflegeheim zusammen, in dem der 69-Jährige lebt; eine jede geprägt von ihrer Zeit, ihren Lebensumständen. Hier Jarosch, 1955 hineingeboren in eine Braucker Bergarbeiterfamilie. Ganz nüchtern betrachtet, sagt er: „Ich hatte das Glück, nach dem Krieg zur Welt gekommen zu sein. Da ist mir das alles erspart geblieben.“ Viel Schelte habe er einstecken müssen, wenn er kritisch auf Sätze reagiert habe wie: „Wir haben nichts gewusst.“
Die Verbindung zu jungen Menschen war dem Gladbecker Peter Jarosch immer eine Herzensangelegenheit
Wie viele Braucker Kinder habe er das ABC und Einmaleins in der Schillerschule gelernt. Es folgten weitere Schuljahre, die in eine kaufmännische Ausbildung mit anschließendem Berufsleben mündeten, „30 Jahre später bin ich auch noch Tischler geworden“. Holzspielzeug und Kindermöbel habe er hergestellt. Im „Struwwelpeter“ und „Buch & Spiel“ verkaufte der Gladbecker seine Produkte.
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„Als junger Falke habe ich am Maxus mitgearbeitet“, erzählt Jarosch, „mit 15 bin ich Mitglied der sozialistischen Jugend Deutschlands geworden.“ Die Verbindung zu jungen Menschen war Jarosch immer eine Herzensangelegenheit. Das ist spürbar. Die Chemie stimmt zwischen dem 69-Jährigen und dem Heisenberg-Pennäler Fiete auf Anhieb, sofort sind sie beim Du. Und da ist sie schon, die erste Gemeinsamkeit: Sie sind „waschechte Gladbecker“. Fiete aus Schultendorf erblickte im Jahre 2006 das Licht der Welt. Er merkt an: „Mein Vater ist so alt wie Du!“ Evangelischer Pfarrer im Schuldienst sei der gewesen. Wie der 17-Jährige es selbst mit dem Glauben hält? „Ich bin unentschlossen.“
Jaraosch, getauft und konfirmiert in der – nicht mehr existierenden – Pauluskirche, hat seine Entscheidung getroffen.Agnostiker sei er. Also ein Mensch, der sagt: „Ich weiß nicht, ob es einen Gott gibt, das ist nicht zu beantworten.“ Im Gegensatz zu einem Atheisten, der diese Frage eindeutig verneinen würde.
Und dann erzählt der 69-Jährige eine Episode aus seinem Leben, die sein junges Gegenüber sichtlich bewegt: „Ich habe einmal neun Tage im Koma gelegen und religiöse Träume gehabt. Ich bin in den Himmel gekommen. Dort habe ich eine Tür geöffnet. Da hat Jesus an einem Tisch gesessen.“ Aber einerlei, ob „es einen Gott gibt oder nicht, die Welt dreht sich weiter“. Mit allem Schlechten auf dem Globus. Träume vom Vietnam-Krieg begleiteten den Gladbecker. Bilder von Napalm- und Agent-Orange-Opfern samt der politischen Haltung des US-amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy seien ihm nicht aus dem Kopf gegangen. Schlüsselerlebnisse: „Da habe ich mir gedacht: Du gehst in die Friedensbewegung – gegen den Krieg und gegen die USA.“
Das ist für Fiete Nowoczin ein Kapitel Weltgeschichte, das er allenfalls aus Schulbüchern kennt. Doch auch ohne diese Zeit hautnah miterlebt zu haben, konstatiert er selbstkritisch für seine Generation: „Oft haben junge Leute das Gefühl, dass Demokratie und Frieden selbstverständlich sind. Aber jeder muss etwas dafür tun.“ Darunter stellt sich der Gymnasiast nicht vor, dass jeder demonstriert. Vielmehr fange es schon im Kleinen an, man müsse im eigenen Umfeld aufmerksam sein.
„Ich bekomme in der Schule immer wieder Leute mit, die rechtes Gedankengut verbreiten“, erzählt der Schultendorfer. Manche Leute äußerten sich so, weil sie vielleicht ungebildet seien oder es „witzig finden“. Andere würde der 17-Jährige als Mitläufer bezeichnen. Einig sind er und Jarosch sich darin: Egal welche Motivation dahintersteckt, „beides ist gefährlich“.
Der 69-Jährige führt gegen Ausländerfeindlichkeit ins Feld: „Gerade im Ruhrgebiet sollten wir junge Menschen darauf hinweisen, dass viele hier eine Migrationsgeschichte haben.“ Ohne die Arbeitskräfte aus der Türkei und anderen Länder, die im Bergbau malochten, „wäre Gladbeck ein ganz armes Dorf geblieben“. Jaroschs familiäre Wurzeln liegen in Oberschlesien, „meine Großeltern stammten aus Ostpreußen“, so Fiete. Noch eine Gemeinsamkeit.
Lösungsansatz: Mehr Bildung gegen Unwissenheit
Anstatt sich menschenverachtend über andere auszulassen, solle man aufeinander achten – einerlei, woher jemand ursprünglich stamme. Der 17-Jährige meint: „Das Problem der Unwissenheit wäre zu lösen, wenn solche Themen im Schulunterricht behandelt würden.“ Das bezieht er nicht nur auf Migrationsfragen, sondern auch auf Erinnerungskultur. „Man muss aufklären, frühzeitig damit anfangen, über den Holocaust und Politik insgesamt zu informieren. Inwiefern das an allen Schulformen möglich ist, kann ich nicht beurteilen. Aber wir müssen lernen, wie man sich sozial verhält.“
Nicht zu vergessen: aus der Vergangenheit Lehren ziehen. Jarosch stimmt zu: „Kein Mensch kann Schuld an etwas tragen, das vor seiner Geburt geschehen ist. Wir müssen jedoch das Bewusstsein für Ungerechtigkeit und Unrecht entwickeln.“
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Das Bündnis für Courage, zu deren Mitbegründern Jarosch gehört, hat die Verlegung der sogenannten Stolpersteine angestoßen und bis dato fortgesetzt. Die Aktion des Künstlers Gunter Demnig habe ihn zutiefst beeindruckt, berichtet Jarosch. Gegen Widerstand setzte Courage die Stolperstein-Idee durch. Anno 2009 wurde die erste der quadratischen Gedenktafeln in Gladbeck verlegt.
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Wer die im Boden eingelassenen Plaketten betrachtet mit dem Wissen: „Das war ein Mensch wie Du und ich, das hätte ein Freund oder eine Nachbarin sein können“, der sieht die Verfolgung und Ermordung von jüdischen Opfern sowie anderen, die im Nationalsozialismus verhasst waren, voller Empathie mit anderen Augen. Dann erwachen Zahlen zum Leben, zum Leben von Mitmenschen.
Gladbecker Bündnis für Courage
Peter Jarosch erzählt: „Ich habe damals als sachkundiger Bürger im Kulturausschuss den Antrag auf Verlegung von Stolpersteinen gestellt.“ Damit stieß der heute 69-Jährige auf Widerstand.
Kritikpunkt: „Es hieß, auch aus der jüdischen Gemeinde, dass man nicht wolle, dass Leute – womöglich sogar Täter – auf den Namen der Opfer des Nationalsozialismus‘ herumtrampeln.“ Jarosch und Gleichgesinnte wollten hingegen konkrete Orte schaffen, an denen der Opfer gedacht werden könne.
Er habe Roger Kreft, damals engagierter DGB-Mann und immer noch Bündnis-Aktivist, von der Idee berichtet. Der ließ sich nicht lange bitten und unterstütze die Aktion. Das Bündnis für Courage als Projekt der Bürgerschaft war geboren. Peter Jarosch: „Wir waren 40 Leute aus den christlichen Kirchen, Parteien und anderen Gruppen.“
Im November, weiß Fiete Nowoczin, sollen weitere Exemplare in Gladbeck verlegt werden. Er habe das Glück, dass am Heisenberg-Gymnasium eine Courage-AG ins Leben gerufen wurde. Die Mitglieder beschäftigen sich mit der Biografie der Opfer, putzen auch die Stolpersteine.
Das hat bis zu seiner schweren Erkrankung Peter Jarosch über Jahrzehnte in die Hand genommen, weil es ihm auch eine Herzensangelegenheit gewesen ist. Das kann er, gesundheitlich angeschlagen, nun nicht mehr tun. Doch er ist froh und dankbar, dass Fiete und andere junge Menschen in Gladbeck die Stolpersteine regelmäßig zum Glänzen bringen, sich mit diesem Kapitel deutscher Geschichte auseinandersetzen. Diese, so der Heisenberger aus dem elften Jahrgang, dürfe nicht vergessen werden. Dafür will er sich starkmachen.
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Eines will er noch wissen: „Peter, gab‘s einmal in deinem Leben einen Moment, in dem du ans Aufgeben gedacht hast?“ Jarosch ganz ehrlich: „Ja. Seit meinem 15. Lebensjahr habe ich mich dafür eingesetzt, dass die Welt ein wenig besser wird. Aber mir wurde gesagt: Ohne dein Engagement wäre vieles noch schlimmer.“ Und darin gehen er und Fiete – wieder einmal – d‘accord: „Der Einsatz gegen rechts und Menschenverachtung ist heutzutage wichtiger denn je!“