Gladbeck. . Das Pestalozzidorf in Gladbeck-Ellinghorst war einst eine Mustersiedlung, die die Hibernia für Kumpel anlegte. In Familien wurden junge Männer einquartiert, die aus allen Himmelsrichtungen in das Ruhrgebiet strömten, um auf den Zechen Arbeit zu finden. Der Dorfcharakter ist mit heutzutage spürbar.
Da liegt sie, die Stadt Gladbeck im Jahre 1935. Die Roonstraße ist zu erkennen, die Adolf-Hitler-Allee. Der Zeigefinger fährt auf dem Plan die Bottroper Straße entlang, stoppt in Ellinghorst, an der Geflügelfarm „Westfalen-Fleiß“. „Sonst gab’s nur Felder“, sagt Helmut Schulz: Noch ist die Gegend ein weißer Fleck auf der Landkarte. Dort wurde in den 1950er Jahren das Pestalolozzidorf aus den Feldern gestampft. Auf dem Wohnzimmertisch der Schulzens dehnt sich das Gladbeck des Jahres 1991 aus – auf dem Papier. Das Zuhause der Eheleute befindet sich mitten in der Siedlung. Das Pestalozzidorf sollte jungen Männer ein Heim bieten, die unter Tage mit dem schwarzen Gold ihr Brot verdienen wollten. Schulz: „Nach dem Krieg war das einzige, was da war, Kohle. Männer gab’s hier nicht.“
Eine Welt für sich
Die Arbeitskräfte kamen von Gott-weiß-woher aus allen Himmelsrichtungen ins Ruhrgebiet und damit auch nach Gladbeck: aus Schlesien, dem Bayrischen Wald, Ostpreußen . . . „Ist das schön hier“, mag vielleicht manch’ Neuankömmling staunend gesagt haben, als er das erste Mal einen Fuß ins Pestalozzidorf gesetzt hatte. Und fast schon malerisch finden Menschen im Jahre 2014 die gepflegte Bilderbuchsiedlung, die glatt aus einem Werbeprospekt gegriffen sein könnte.
Eine Augenweide: schmucke Wohnhäuser, sorgfältig angelegte Gärten mit säuberlich gemähten Rasenstücken, penibel gefegte Bürgersteige, knorrige alte Bäume, die ihre dicht belaubten Äste über die Fahrbahn recken, auf der kein Steinchen oder Fitzelchen Papier die Szenerie stört. Und über allem liegt eine wohltuende Ruhe, durch die ab und an das Rauschen von Autos auf der Bottroper Straße (genau jene, die auch schon mit diesem Namen auf dem Gladbeck-Plan des Jahres 1935 verzeichnet ist) sickert.
Danzig oder Holstein
Die Häuserwände tragen Namen wie Danzig, Mecklenburg oder Holstein, künstlerisch eingearbeitet in Wappen und symbolträchtige Szenen, zum Beispiel ein Schiff mit geblähten Segeln für Hamburg und Bremen. Eine Reminiszenz an die die Heimat, der die jungen Neuankömmlinge den Rücken gekehrt hatten, um auf Zechen wie Möller Arbeit zu finden. Und im Pestalozzidorf fanden sie – mit etwas Glück – einen Familien-Ersatz. Schließlich waren die „Jungs“ in der Regel zwischen 15 und 17 Jahre alt. Allerdings war’s keine heile Märchenwelt.
Gebaut nach dem selben Muster
Schulz erklärt: „Die Pestalozzidörfer, die in den 50er Jahren entstanden, waren immer Wohneinheiten der Hibernia, alle gebaut nach dem selben Muster.“ Diese Anlagen waren ausschließlich für Bergleute bestimmt. In die Familien wurden jeweils drei „Bergjungleute“ einquartiert. Auf 105 Quadratmetern Fläche pro Haus gab’s eine klare Aufteilung: Das Elternschlafzimmer war tabu für die jungen Männer, den Wohnraum nutzten sie gemeinsam mit der Familie. Ihre Schlafräume hatten sie in der Mansarde, ausgestattet mit einem Waschbecken: „Die Mutter wusch, kochte, nähte – machte alles; dafür bekam sie zum Kostgeld eine Vergütung von etwa 200 Mark.“ Jedes Haus hatte eine Zentralheizung, geduscht wurde auf der Zeche.
Nur einen Steinwurf von „Pommern“ entfernt führte der „schwarze Weg“ entlang. Er bildete die Verbindung von der Siedlung zur Zeche. Und ein paar Schritte weiter zeugen noch die Pfosten von jener Zeit, als in den Angeln noch Tore hingen: „Die wurden abends abgeschlossen.“ Damit war das Pestalozzidorf erst recht eine Welt für sich: mit einem eigenen „Konsum“, einem Gemeinschaftshaus, zwei Jugendheimen, in dem sich die jungen Männer in ihrer Freizeit trafen. Es war eben alles da, was so ein Dorf braucht, und dieser besondere Charakter ist bis heute spürbar.
Chance zum Hauskauf
Helmut Schulz ist ein waschechter Gladbecker und der Sohn eines Bergmanns. Der heute 76-Jährige zog mit seiner Frau Erika in das Pestalozzidorf, erwarb sein persönliches Pommern im Jahr 1965. „Nach der Zechen-Stilllegung bestand die Möglichkeit zum Kauf“, erzählt Schulz. Und der Diplom-Ingenieur für Bergbau erinnert sich auch noch an den großen Einschnitt in der Geschichte des Pestalozzidorfes: „Als es keine Bergleute mehr gab, hat man Angestellten-Wohnungen daraus gemacht.“
Die Schulzens bauten sich ihr Heim so um, dass es für eine vierköpfige Familie zweckmäßig war. Manche der späteren Hausbesitzer haben die einstigen Orts-Embleme an den Häusern entfernt. Doch: „Pommern“ ist geblieben.