Gladbeck. Immer häufiger kommen Eltern wegen Kleinigkeiten mit ihrem Nachwuchs in Kinderarztpraxen. Gladbecker Mediziner berichten, was dahintersteckt.
Eine aufgeregte Mutter, die mit ihrem Sprössling die Kinderarzt-Praxis stürmt – weil der Kurze einen Mückenstich hat? Eltern in heller Panik: Der Nachwuchs hat eine gerötete Wange! Was könnte das sein? Alles schon erlebt, alles schon gehabt, stellen Kinderärzte in Gladbeck fest. Böse Zungen mögen nun behaupten, dass Mütter und Väter wegen Kinkerlitzchen den Doktor aufsuchen. Zwei Kinderärzte erklären, was hinter diesem Phänomen steckt.
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„Dass uns Eltern wegen Kleinigkeiten aufsuchen, hat es schon immer gegeben. Manche Mütter brauchen diesen Kontakt einfach, da klingt eine gewisse Unsicherheit durch. Unser Beruf ist vielgestaltig. Wir sind nicht nur Mediziner, sondern auch Ansprechpartner in vielen Angelegenheiten, Psychologen, Seelsorger und Sozialarbeiter“, stellt Dr. Stefan Kusserow fest.
Gladbecker Kinder- und Jugendärzte erkennen eine zunehmende Unsicherheit
Nach Experten-Auffassung fußt diese besagte Unsicherheit auf mehreren Faktoren. So sieht der Kinder- und Jugendarzt, dass es vermehrt nicht oder wenig gebildete Menschen gebe, denen es schon an Grundkenntnissen mangele. Zudem stoßen seine Erklärungen häufig auf taube Ohren. „Da sucht mich jemand mit seinem Kind bis zu fünfmal mit demselben Infekt auf“, berichtet Kusserow. Er werde dann beispielsweise fordernd gefragt: „Warum geben Sie uns jetzt kein Antibiotikum?“ Die – wiederholte – Antwort – des Mediziners: „Ein Antibiotikum hilft nur gegen Bakterien, nicht gegen Viren. Ein Virus lässt sich nicht töten, diese Behandlung braucht Zeit.“
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Aktuell, nach den einschneidenden Corona-Maßnahmen, seien Viren potenter und zahlreicher geworden: „Sie treffen auf die ungelernten Immunsystemeder Kinder ohne Antikörper.“ Das muss allerdings nicht immer bedeuten, dass ein Gang zum Arzt notwendig ist. In vielen Fällen könnten Eltern ihrem Kind selbst helfen, nur: gewusst wie!
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„Zwiebelsäckchen für die Ohren oder bei Erkältung eine Hühnersuppe: Ich schätze Hausmittel und empfehle sie auch“, so Kusserow. Dieses Wissen sei oft in Vergessenheit geraten. Einerseits könne das daran liegen, dass Kenntnisse über Hausmittel nicht an kommende Generationen weitergegeben wurden. Andererseits vertrauten manche Eltern eher Medikamenten aus der Apotheke.
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Dieses „hohe Bedürfnis“ nach Arznei bemerkt auch Carsten Rothert aus der Praxis Grube & Partner. Mit Tipps für Wadenwickel bei Fieber, Honig gegen Husten, Gurgeln, Tees & Co. geben sich Eltern nicht immer zufrieden: Sie verlangen Verschreibungen. Der Kinder- und Jugendarzt erkennt eine „fehlende Gesundheitsschulung“: „Wir hatten in Gladbeck eine hervorragende Elternschule, die Mütter und Väter zur Selbstständigkeit erzogen hat. Eltern können oft nicht mehr entscheiden, wann sie besser zum Arzt gehen und wann sie selbst etwas unternehmen.“
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Was ist überhaupt Fieber? Was eine Erkältung? „Elternsein ist ein Lehrberuf“, sagt der Arzt im Brustton der Überzeugung. Man könne lernen, was tatsächlich eine ernstzunehmende Krankheit oder eben eine kleine Malaise sei. Rothert sieht auf Großmütter „in der Hoffnung als Korrektiv mit Erfahrung, die sie übermitteln“. Allerdings habe sich die Rolle der älteren Frauen-Generation gewandelt: „Manchmal habe ich das Gefühl, dass Kinder- und Jugendärzte Großmutter-Ersatz sind.“
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Zudem ziehe Über-Fürsorge oft Verunsicherung nach sich, diagnostiziert Rothert. Da gehe eine Mutter eben lieber auch wegen einer kleinen Erkältung in die Praxis. Gerade Frauen stünden durch Ansprüche aus ihrem Umfeld unter Leistungsdruck. Von ihnen werde erwartet, dass sie das Bild einer Vorzeigemutter erfüllen, die alles unter Kontrolle habe: „Die Beweislast liegt bei den Frauen.“ Vom – überspitzt ausgedrückt – Pickel bis zur tropfenden Nase: „Manche meinen, sie müssten damit zum Arzt gehen.“
Attest ist Pflicht
Neue Regelungen zum Umgang mit erkrankten Kita-Kindern verschärfen den Andrang in Arztpraxen zusätzlich und verunsichern viele Eltern. Denn: Mädchen und Jungen müssen auch nach kleinen Infekten vom Arzt gesund geschrieben werden. Dazu verpflichtet das Familienministerium.
Bescheinigt werden muss, dass die Kleinen frei von ansteckenden Krankheiten sind. Ansonsten dürfen die Kinder die Einrichtung nicht besuchen.
Eine Rolle spiele auch die Herkunft mit ihren speziellen Verhaltensmustern und Bedürfnissen. Rothert bringt die Folge so auf den Punkt: „Mit jedem Sprechzimmer wechselt man den Kulturkreis und muss sich individuell auf die Patienten einstellen.“
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Aber er hat neben Unsicherheit noch einen weiteren Aspekt ausgemacht: „Wenn Mütter wegen Kleinigkeiten zu uns kommen, kann das auch ein Indikator sein, dass ein anderer Anlass hinter dem Arztbesuch steckt: Sie brauchen jemanden zum Reden. Der Klassiker ist, dass der Mann auf Montage ist und die Frau sich einsam fühlt.“ Bagatellen könnten ein Vorwand sein, „das Herz zu öffnen“.
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Wie Kusserow registriert Rothert gesellschaftliche Schwierigkeiten, die sich in den Praxen widerspiegeln. Ein hoher Anteil an sozial schwachen Menschen wirke sich aus: In diesem Milieu leben mehr Kinder, häufig sei die Grundgesundheit schlechter, „gleichzeitig haben Gruppen aus schwierigen sozialen Verhältnissen viel weniger Möglichkeiten, mit Krankheiten umzugehen als Bessergestellte“.
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Ein weiterer Aspekt, der eine Überlastung der Kinderarztpraxen auslöse: „Wir haben plötzlich mehr Kinder als vor Jahren gedacht.“ Außerdem sei eine „deutliche Zunahme von psychosomatischen Problemen“ spürbar.
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Beim Andrang von Eltern, die simple Anliegen haben, sei mit einem Verlust der Qualität in den Sprechzimmern zu rechnen, darin sind sich Kusserow und Rothert einig. Denn: Zeit für ernstzunehmende Fälle wird blockiert.