Essen. Medizinisches Cannabis wird immer häufiger von Ärzten verschrieben – und von Patienten nachgefragt. Weil es wirkt. Aber es ist nicht für alle geeignet.

Seit April ist es in Deutschland legal, Gras zu rauchen. Schon seit 2017 ist Cannabis in der medizinischen Therapie zugelassen; vor allem in der Schmerz- und Palliativmedizin kommt das Hanfgewächs immer häufiger zum Einsatz, es wird zunehmend von Patienten auch nachgefragt. Aber es bedürfe einer klaren Indikation und eines „differenzierten Umgangs“, erklären Cornelius Leopold und Mitra Tewes, Palliativmediziner der Essener Uniklinik. Leopold wird darum auf einem Aktionstag des Westdeutschen Tumorzentrums am kommenden Freitag (23.8.), der sich dem Thema Schmerz bei Krebspatienten ausführlich widmet, auch die Möglichkeiten und Grenzen von Cannabis in der Medizin aufgreifen. Die wichtigsten Fragen und Antworten vorab.

Welche therapeutische Wirkung hat Cannabis?

Dass die Hanfpflanze, aus deren getrockneten Blüten und Blättern sich auch die Rauschmittel Haschisch und Marihuana herstellen lassen, Leiden lindern kann, ist lange bekannt – vor allem bei Schmerzen, Schlaflosigkeit, Spastiken, Übelkeit oder Appetitlosigkeit kann es helfen. Die medizinische Wirkung geht vor allem auf zwei Inhaltsstoffe zurück: THC (Tetrahydrocannabinol) sowie CBD (Cannabidiol).

Wie unterscheiden sich beiden Inhaltsstoffe THC und CBD?

THC wirkt deutlich besser gegen Schmerzen als CBD, hat aber berauschenden Effekt. CBD ist nicht „psychoaktiv“, gelte deswegen auch nicht als Betäubungsmittel, erklärt Cornelius Leopold, Oberarzt des Palliativmedizinischen Dienstes am Universitätsklinikum Essen. CBD wirkt vor allem entzündungshemmend, angstlösend, antiepileptisch und entspannend.

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Wem kann Cannabis helfen?

Krebs-Patienten, aber auch anderen schwer Erkrankten: „Bei uns kommt Cannabis vorrangig bei Patienten mit chronischen Schmerzen zum Einsatz“, erläutert Leopold, „aber auch bei neurologischen und neurodegenerativen Erkrankungen.“
80 Prozent der Patienten in der Palliativversorgung seien Krebs-Patienten, erläutert Privatdozentin Dr. Mitra Tewes, Leiterin der Palliativmedizin der Universitätsmedizin Essen. Cannabis sei für diese Patienten „ein Baustein von vielen, eine sehr gute Option bei Schmerzen, therapieresistenter Übelkeit und Appetitlosigkeit“. „Deshalb haben wir das Thema auf unserer Agenda, deshalb gibt es den Vortrag dazu am WTZ-Aktionstag. Wir wollen aufklären.“ Denn in der Regel müssten andere Optionen ausgeschöpft sein (oder nicht vertragen werden), bevor Cannabis verordnet wird.
In Leopolds Augen ist einer der großen Vorteile von Cannabis, dass es mit anderen Medikamenten kaum interagiert; es also nicht zu unerwünschten Nebenwirkungen kommt. Gerade bei älteren Patienten, die oft mehrere Arzneien gleichzeitig nehmen müssen (Polypharmazie), sei eine Cannabis-Therapie daher oft „einen Versuch wert“, auch wenn sich Betroffene gelegentlich dagegen wehrten, weil sie „keine Drogen“ nehmen wollten. „Aber stattdessen lieber starke Opioide?“, fragt sie Leopold dann. Eine Überdosierung davon kann zu einer Atemdepression führen, und das könne lebensgefährlich sein. Cannabis habe diese Nebenwirkung nicht.

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Gibt es Kontraindikationen?

Patienten mit psychiatrischen Vorerkrankungen, vor allem mit schweren Depressionen oder Psychosen, Schwangeren, Stillenden oder unter 18-Jährigen werden keine Cannabis-Präparate verordnet – genauso wenig wie Patienten mit einer bekannten Drogenabhängigkeit in der Vorgeschichte.

Sind Nebenwirkungen bekannt?

Schwindel und Müdigkeit sind möglich – neben der psychoaktiven, also der berauschenden Wirkung von THC-haltigen Cannabis-Produkten. Interessant ist, dass Cannabis in hohen Dosen zudem Übelkeit verursachen kann – niedrig dosiert kann es sie bekämpfen.

Besteht bei einer medizinischen Cannabis-Therapie die Gefahr, abhängig von dem Betäubungsmittel zu werden?

„Ja“, räumt Leopold ein, „insbesondere wenn die THC-Dosis sehr hoch ist, können wir das nicht ausschließen.“

AD:2022; ANa:Tewes; ANr:22364; Palliativbeauftragter, Dr. Mitra Tewes PD Dr. Mitra TewesCornelius Leopold

„Alle reden über das Thema, aber Cannabis ist (...) bestimmt kein Allheilmittel. Die Indikation muss klargestellt sein““

PD Dr. Mitra Tewes

In welcher Form wird medizinisches Cannabis verabreicht?

Oral (als Tropfen, Kapsel oder Tee) sowie als Spray (zur Anwendung in der Mundhöhle); getrocknete Blüten können zudem unter Verwendung eines Vaporisators inhaliert werden – was am schnellsten wirke, so Leopold, „meist innerhalb von zehn Minuten“. Bei der Inhalation sei aber auch die „psychoaktive Komponente“ deutlich höher, was sich auch auf die Fahrtauglichkeit auswirken kann. In öliger Tropfenform verfügbar seien Vollextrakte aus der Blüte, sowie reine THC- und reine CBD-Extrakte. „Das sind Retard-Produkte, die man morgens und abends schluckt, und die über den ganzen Tag wirken, so Leopold. Eine Wirkung sollten Patienten innerhalb von zwei Tagen verspüren.
Bei chronischen Schmerzen die richtige Dosis für den einzelnen Patienten zu finden, sei nicht leicht, betonen die Ärzte. Denn die habe – anders als bei anderen Medikamenten – nichts mit Alter oder Gewicht zu tun, sondern hänge vom individuellen Metabolismus (Stoffwechsel) ab. Man müsse sich „langsam herantasten“, es könne sei, dass eine zarte Omi mehr benötige als ein junger, kräftiger Mann. „Start low, go slow“ sagen Mediziner.

Was unterscheidet medizinisches von normalem Cannabis?

Die Qualität von Cannabis sei „Ernte-abhängig“, eine standardisierte Qualität der Pflanzen und Pflanzenextrakte aber entscheidend für den Erfolg der Therapie, so Leopold. Pharmakologen kontrollierten daher die medizinischen Cannabis-Produkte. Denn nicht alle Hersteller lieferten zuverlässig identische Qualität. „Es kann passieren, dass die Blüten, die Sie einem Patienten vor drei Monaten verschrieben haben, plötzlich nicht mehr zu kriegen sind.“

PD Dr. Mitra TewesCornelius Leopold

„Bis die richtige Dosis gefunden ist, sollten Sie das Autofahren lieber lassen.“

Cornelius Leopold

Wer darf Cannabis verordnen?

Es gibt keinen „Facharztvorbehalt“, deshalb darf das im Grunde jeder Mediziner, auch der Hausarzt – der gerade in der ambulanten Palliativversorgung für Patienten meist wichtigster Ansprechpartner ist.

Was kostet die Therapie und wer bezahlt sie?

Theoretisch: die Krankenkasse. Die Regelungen seien aber schwammig, sagt Leopold, „bei palliativen Krebspatienten ist es leichter als bei solchen mit chronischen Schmerzen.“ Außerhalb der spezialisierten Palliativversorgung forderten die Krankenkassen oft einen ärztlichen Kostenübernahmeantrag.
Die Extrakt-Therapie koste im Schnitt 400 bis 500 Euro im Monat, Blüten aus der Apotheke seien mit 20 Euro pro Gramm etwa doppelt so teuer „wie auf dem Markt“. „Auch das ist der Grund, warum wir auf dem Aktionstag für das Thema sensibilisieren wollen. Alle reden über das Thema, aber Cannabis ist eben teurer als andere Therapeutika und bestimmt kein Allheilmittel. Die Indikation muss klargestellt sein“, erläutert Mitra Tewes.

 Darf ich unter einer Cannabistherapie Auto fahren?

„Bis die Dosis gefunden ist, die wirkt, sollten Sie es lassen“, rät Leopold. Analog zur Opiod-Therapie bestätigten Ärzte Cannabis-Patienten, die stabil eingestellt sind, dann, dass der Konsum medizinisch notwendig sei. „Denn im Blut lassen sich erhöhte THC-
Werte leicht nachweisen.“ Für vier bis sechs Stunden nach einer Cannabis-Inhalation gelte grundsätzlich ein Fahrverbot.  

 Kann ich von einem Opioid zur Schmerzbehandlung auf Cannabis umgestellt werden?

„Jein“, meint Experte Leopold. Cannabis wirke nicht so stark wie Opioide, wer also wegen extremer Schmerzen einen hohen Opioid-Bedarf habe, könne selten auf Cannabis umsteigen. Durch die Kombination von Opioiden mit Cannabis könne man aber gegebenenfalls die Opioid-Dosis reduzieren. Bei Patienten, deren Schmerzen etwa durch Chemotherapien oder Bestrahlungen im Verlauf geringer werden, funktioniert eine Umstellung oft auch. Und natürlich könne man auch die Cannabis-Dosis reduzieren, wenn es dem Patienten wieder besser geht. „Die meisten unserer Palliativpatienten sind Krebspatienten und erhalten Opioide“, erläutert Tewes. „Wir verordnen Cannabis oft zusätzlich. Gegen die Schmerzen und auch, weil es den Appetit steigern kann.“ Jüngst erst habe sie eine junge Frau mit Brustkrebs, die auf starke Opioide eingestellt war, auf Cannabis umstellen können. „Als ihre Schmerzen unter der Bestrahlung schwächer wurden, hat sie angefangen zu vaporisieren. Opioide nimmt sie nun nur noch bei Schmerzspitzen.“ 

 >>>> INFO: WTZ-Aktionstag

Unter dem Motto „Leben mit Schmerz – Aktiv für einen besseren Alltag“ lädt das Westdeutsche Tumorzentrum der Essener Universitätsmedizin am Freitag (23.8.), 14.30 bis 18 Uhr, zum dritten „WTZ-Aktionstag“ ein. Experten und Expertinnen aus Schmerztherapie, Palliativmedizin, Psychoonkologie, Onkologischer Pflege, Sport- und Ernährungswissenschaft und anderen Fachbereichen stellen neben der Cannabis-Therapie verschiedenste Angebote vor, informieren rund ums Thema.       Näheres auf der Homepage des WTZ. Die Veranstaltung ist kostenlos und findet im Deichmann Auditorium auf dem Campus der Uniklinik statt, ist aber auch via Zoom zu verfolgen. Um Anmeldung wird gebeten.