Ruhrgebiet. Tim hat mit Drogen gedealt und aus Spaß Autos beschädigt. Hier berichtet er, wie er kriminell wurde – und wie man ihn gerettet hat.

Es war nicht das erste Mal, dass die Polizei bei Tim klingelte – aber mit zwei Mannschaftswagen war sie noch nie angerückt. Die Polizisten durchsuchten das Elternhaus des 16-Jährigen und fanden einen dicken Beutel Cannabis. Tim nennt das Versteck im Garten „meinen Bunker“. Ein Nachbar habe ihn verpfiffen, glaubt er. Und vielleicht war dies das Beste, was ihm passieren konnte. Die Durchsuchung war ein Wendepunkt in seinem Leben. Aber ohne all die Vorarbeit hätte sie kaum Wirkung entfalten können: die Klinik, die Initiative „Kurve kriegen“, dieses eine Gespräch mit dem Vater. Hier erzählt Tim, wie er zum Drogendealer wurde – und was nötig war, ihn aus der Kriminalität zu holen.

Der Fall

Es ist zweifellos ungerecht, Tims Fall auf den Jungen zu schieben, der plötzlich in seiner Klasse auftauchte, sitzengeblieben, zwei Jahre älter, Kiffer. Tim war schon zuvor von der Polizei befragt worden, weil er gefilmt hatte, wie seine Freunde einen Schulkameraden verprügelten. Dennoch, „der schlechte Umgang“ habe ihn in die Kriminalität geführt, sagt Tim heute. 18 Jahre ist er nun, wirkt aber jünger, schmal gewachsen, der Schnurrbart eher Flaum. Wir haben seinen Namen und den seiner Sozialarbeiterin geändert, damit er anonym bleiben kann.

Unser Schwerpunkt zur Jugendkriminalität

Fünf Jahre ist es her, dass Tim das erste Mal mitkiffte. Und bald fuhr der 13-Jährige jeden Tag aus seiner beschaulichen Siedlung in die Stadt zum neuen Freund und dessen Clique. „Wir haben gechillt und gekifft.“ Es gab ein oder zwei Angebote, für den Dealer der Gruppe „zu laufen“, also bei Bedarf die Drogen aus dem Versteck zu holen und zu verteilen. Aber das war Tim zu wenig. „Ich habe mir das angesehen und gedacht: Das kann ich auch.“

Ein paar Monate später schlug er selbst 100 Gramm die Woche um. „Ich habe auf dem Schulhof einer Grundschule gedealt, nach Schulschluss.“ Bald ist Tim einfach nicht mehr zur Schule gegangen. „Wir haben auch jeden zweiten Tag getrunken. Einmal sind wir losgezogen und haben die Spiegel von Autos abgetreten.“ Sachbeschädigung, Diebstahl, Handel mit Betäubungsmitteln. Tim war auf dem Weg, ein Intensivtäter zu werden.

Ab durch die Hecke

Aus der Mappe seiner „Kurve kriegen“-Pädagogin ragt ein gelber Sticker: „Ab durch die Hecke“ steht darauf. „Ein bisschen Humor schafft auch Zugang“, sagt Katharina T.. Im Freibad hatten die Delinquenten Bier gestohlen. Als die Polizei anrückte, versuchte Tim durch die Büsche zu entwischen, doch die waren zu dicht. „Sie haben uns in der Hecke erwischt.“

Und warum das Ganze? „Wenn fünf deiner Freunde kiffen, bist du der sechste“, sagt Tim. „Ich hatte nie Geldnot. Mit dem Dealen habe ich angefangen, um meinen Konsum zu finanzieren.“ - Oder war damit auch Status verbunden? Er verkneift sich ein Lächeln. „War schon cool.“ Gerade der „Fame“-Faktor sei nicht zu unterschätzen, sagt Katharina T.. Aber der „bad boy“ der Siedlung zu sein, sagt Tim, „war keine Rolle, die man braucht.“

In der Klinik

„Meine Mutter hat oft geweint und genervt. Sie hat von meinem Vater gefordert, er solle strenger sein. Der hat manchmal tagelang nicht mit mir geredet. Das war seine Methode. Vor einem Jahr haben sich meine Eltern offiziell getrennt. Jetzt lebe ich allein mit Papa.“ Zweimal haben Tims Eltern ihn in die Suchtklinik geschickt. „Das erste Mal war ich 15, da haben sie mich von der Polizei hinbringen lassen, weil ich nicht wollte. Mein Kopf war so kaputt von diesem Gras.“ Die Behandlung ging spurlos an ihm vorüber.

„Beim zweiten Mal bin ich freiwillig gegangen, meinen Eltern zuliebe. Ich habe in diesen fünf Wochen gemerkt, wie mein Verhältnis zu meinen Eltern besser wurde, wenn ich sie besuchte. Als ich rauskam, habe ich versucht, den Kontakt zur Clique abzubrechen. Aber meine anderen Freunde, die ich früher hatte, hatten sich von mir distanziert. Und die Kiffer waren meine einzigen Bezugspersonen. Relativ schnell habe ich dann wieder mit denen abgehangen: kiffen, dealen, lügen, Strafanzeige – Wiederholung.

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Die Kumpane seien mittlerweile „noch schlimmer abgestürzt“, weiß Tim. „Die nehmen jetzt härtere Drogen: Koks, Pep, Teile.“ Er meint Kokain, Amphetamin und Ecstasy. „Die sind jetzt jeden Tag am Trinken.“ – Woher er das weiß, wenn er sie nicht mehr trifft? – „Die sind stadtweit bekannt.“ Tim ist froh, dass er den Absprung geschafft hat.

Die Rettung

Die meisten Kandidaten für das Programm „Kurve kriegen“ findet die Polizei über die Straftaten, die sie begehen. In Tims Fall haben sich die Eltern selbst gemeldet, zunächst gegen den Willen des Sohnes, da war er noch 15. „Es ist nicht gegen Sie persönlich, aber ich habe überhaupt keinen Bock“, hat Tim seiner Sozialarbeiterin immer wieder gesagt. „Ich habe nicht verstanden, was das bringen soll, miteinander zu reden.“

„Der große Unterschied zur Arbeit des Jugendamtes ist“, sagt Katharina T.: „Wir können langatmig sein.“ Sie ist zunächst mit Tim spazieren gegangen. „Wenn man nebeneinander herläuft, ist es einfacher, miteinander zu sprechen.“ Es ist schon anstrengend genug, ohne dass man sich anschauen muss. Tim sagt es so: „Ist halt scheiße, wenn man über alles reden muss.“

Als pädagogische Fachkraft sucht Katharina T. nach „Zugängen“. Manchmal geht sie mit den Jugendlichen oder Kindern ins Musikstudio, um Rap-Versuche aufzunehmen, mal zum Klettern. „Beim Fußball ist es oft schwierig, den Einstieg zu finden, wenn man noch nie gespielt hat.“ Tim hatte erwähnt, dass er einen Hund wollte. „Papa war dagegen, es gab nur ein Kaninchen.“ Also lieh sich Katharina einen Hund aus und ging mit Tim Gassi. „Das hat schon gebockt“, sagt Tim. „Aber ich habe trotzdem nicht den Sinn gesehen.“

Die Mutter fand das Gras

„Aber als ich 16 war, ist einmal meine Mutter in mein Zimmer gegangen, hat wieder Gras gefunden, obwohl ich versprochen hatte, dass ich aufhöre. Sie hat dann viel kaputt gemacht. Katharina hat mir ihr geredet, und meine Mutter hat sich sogar entschuldigt.“ Solche Telefonate mit den Eltern gehören zum Auftrag, auch zu unmöglichen Zeiten. Auch als seine Eltern Tim rausgeworfen haben, hat Katharina die Eltern überzeugt, dass sie den Draht zu ihrem Sohn nicht verlieren dürfen. Dass die Erwachsenen den ersten Schritt machen müssen.

„Katharina hat auch an den Gerichtsverhandlungen teilgenommen, die meine Jugend begleitet haben, und hat mir geholfen, Bewerbungen zu schreiben“, sagt Tim. Und so hat sie beharrlich sein Vertrauen erobert. „Ich habe gemerkt: Wenn ich Stress mit meinen Eltern hatte, konnte ich Katharina schreiben oder anrufen.“ Tim begann über seine Gefühle zu sprechen, über den Schmerz, den er seinen Eltern bereitete. Dann kam die Hausdurchsuchung – und dem fast 17-Jährigen kam die Erkenntnis. „Ich hatte keine Lust mehr auf den Stress, der durch mich entsteht.“

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Der Vater fand seine Sprache

Sofort hat Tim dennoch nicht aufgehört. Aber kurz darauf kam er nach Hause „und mein Gras war nicht mehr da. Das hab‘ ich dir weggenommen, hat mein Vater gesagt.“ Er hat sich dann überraschend ruhig mit seinem Sohn zusammengesetzt. – Warum hat dieses Gespräch gewirkt, anders als all die Gespräche zuvor? War es liebevoll? – Tim kann es selbst nicht erklären. Die Einzelheiten verschwimmen, sagt er, „dieses Gras“. Aber klar ist: All die Vorarbeit hatte ihn wieder erreichbar gemacht und dem Vater zur richtigen Sprache verholfen.

Seit über einem Jahr ist Tim nicht mehr straffällig geworden, Gras, sagt er, fasst er nicht mehr an. Aber die Polizei hat seit der Durchsuchung sein Handy. Die Gerichtsverhandlung steht noch aus. Nach einem erfolgreichen Praktikum hat er eine Ausbildung als Fachkraft für Lagerlogistik angefangen. Die Firma kündigte ihm allerdings vor kurzem, weil er zu oft verschlief. Nun will er sein Fachabi nachholen. „Anders als viele unserer Teilnehmer hat Tim den Vorteil, dass er bis zur zehnten Klasse das Gymnasium besucht hat. Die meisten gehen auf Förderschulen“, sagt Katharina T. „Da kann man noch weniger träumen.“

Aber wovon träumt Tim?

„Träume?“ Da wird sein Blick überraschend hart. „Ich werde halt 40 Stunden arbeiten wie alle. Was soll man da träumen?“

So hilft „Kurve kriegen“

Mehrfachtäter zwischen acht und 15 Jahren sind die Zielgruppe von „Kurve kriegen“. Das Programm soll die Kinder und Jugendlichen in einem Stadium abholen, in dem sie noch erreichbar sind, um einer weiteren kriminellen Karriere vorzubeugen. Eine „pädagogische Fachkraft“ kümmert sich in Abstimmung mit der Polizei intensiv um die Teilnehmenden. Diese sind freiwillig dabei. Weil sie minderjährig sind, müssen ihre Eltern zustimmen.

Das Konzept ist in NRW ab 2011 entwickelt worden und läuft hier mittlerweile fast flächendeckend (in 42 von 47 Polizeibehörden). Auch international gilt es als Erfolgsmodell. Schweden zum Beispiel, das eine Welle extremer Jugend- und Bandenkriminalität erlebt, setzt das Konzept bereits an drei Orten ein. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa empfiehlt „Kurve kriegen“ ihren 57 Mitgliedsstaaten.

Etwa 40 Prozent der Absolventen werden nicht mehr straffällig, bei den anderen reduziert sich die Zahl der Straftaten statistisch um die Hälfte. Jeder in diese Prävention investierte Euro sich zehnfach auszahlen, hat das Innenministerium ausrechnen lassen.

„Kurve kriegen“ kostet pro Teilnehmer etwa 11.000 Euro im Jahr. Bei über 2300 Teilnehmenden hat NRW bereits über 25 Millionen Euro investiert. Die Investition zahle sich aus, hebt Innenminister Herbert Reul (CDU) hervor. „Ein Intensivtäter verursacht bis zu seinem 25. Lebensjahr durchschnittlich 100 Opfer und soziale Folgekosten in Höhe von etwa 1,7 Millionen Euro.“ Zum direkten Vergleich: ein Haftplatz oder eine stationäre Unterbringung kostet 6500 Euro im Monat.