Essen. Zu viele Ältere nehmen zu viele Arzneien ein, belegt der AOK-Gesundheitsreport 2022. Oft trägt eine falsche Erwartungshaltung dazu bei.
Zwei von drei Patienten über 65 Jahren verlassen nach einer stationären Behandlung die Klinik mit einer langen Liste neuer Medikamente. Und nicht immer tut ihnen das gut. Im ihrem brandneuen Gesundheitsreport 2022 hebt die AOK Rheinland/Hamburg die „Polypharmazie“ deshalb als zentrale Erkenntnis hervor.
Im Quartalsdurchschnitt der Jahre 2017 bis 2019 nahmen demnach 42,7 Prozent der älteren Versicherten gleichzeitig und dauerhaft mehr als fünf verschiedene Wirkstoffe ein – so die Definition von Polypharmazie. Nach einem Krankenhaus-Aufenthalt waren es 66,6 Prozent – Patienten, wohlgemerkt, denen zuvor keine oder nur wenige Medikamente verordnet worden waren. Frauke Repschläger, Apothekerin für geriatrische Pharmazie bei der AOK Rheinland/Hamburg, nennt die Zahlen „erschreckend“. Überrascht haben sie sie nicht.
Schmerzmittel und Pillen gegen Bluthochdruck: keine gute Kombi
Mögliche Wechselwirkungen einzelner Wirkstoffe machen Polypharmazie zu einem Gesundheitsrisiko, Schmerzmittel wie Ibuprofen und solche gegen Bluthochdruck (ACE-Hemmer, Diuretika) etwa sind keine gute Kombi, sie geht auf die Nieren. Bis hin zum Nierenversagen, sagt Repschläger. Schlaftabletten, insbesondere in zu hoher Dosierung, vertragen sich nicht gut mit Psychopharmaka. Da der Stoffwechsel alter Menschen langsamer ist als der junger, entstünden „Überhang-Effekte“, steige womöglich die Sturzgefahr, nehme die Vergesslichkeit zu, so Repschläger. Nicht einmal rezeptfreie Arzneien sind ungefährlich: Die Enkelin, die für die Oma Ginkgo aus der Drogerie mitbringt, meine es sicher nur gut, das pflanzliche Mittel soll bei Demenz oder Tinnitus ja helfen, hat sie vielleicht gehört. Doch wenn die Oma auch Blutverdünner nimmt, was viele alte Menschen tun, erhöhe Ginkgo das Blutungsrisiko, erläutert Repschläger. Und solche privat gekauften Medikamente sind im AOK-Gesundheitsreport nicht einmal berücksichtigt.
300.000 Klinikeinweisungen und bis zu 25.000 Todesfälle gehen schätzungsweise jährlich auf Arzneimittelwechsel- und Nebenwirkungen zurück, weiß die Expertin. Das zu ändern, ist ihr ein „Herzensthema“. Schuld daran, dass so viele, oft zu viele Medikamente verordnet werden, haben ihrer Ansicht zufolge indes nicht nur die Ärzte, die es tun. „Es gibt gerade bei älteren Patienten auch eine gewisse Erwartungshaltung, dass jede Krankheit medikamentös behandelt werden muss.“ Viele meinten, „je mehr Tabletten mir mein Arzt verschreibt, desto besser für mich.“
Nach der Fraktur muss man fragen: Warum ist der Patient gestürzt?
Dabei könnten tatsächlich auch einzelne Medikamente bereits gefährlich werden. Bestimmte Antidepressiva und Schlafmittel beispielsweise erhöhen bei Älteren das Sturzrisiko. Die Statistiken der AOK Rheinland/Hamburg zeigen: Bei mehr als jedem fünften Versicherten ab 65 Jahren, der wegen Knochenbrüchen im Krankenhaus behandelt wurde, waren zuvor solche Medikamente verordnet worden. „Diese Zahlen belegen noch keinen ursächlichen Zusammenhang, sie sollen aber für das Thema sensibilisieren“, meint Repschläger. „Natürlich ist es richtig, die alte Dame mit Oberschenkelhalsfraktur erst einmal ordentlich zu versorgen. Aber danach muss man fragen: Warum ist sie gestürzt?“ Denn oft sei nicht die berühmte Teppichkante dafür verantwortlich, sondern ein gefährlicher Medikamentencocktail.
Dabei helfe dem, der nachts schlecht schläft womöglich schon, statt abends eine Pille zu schlucken, mal auf den Mittagsschlaf zu verzichten. Das Mittel gegen Blasenschwäche verhindere zwar das „Tröpfeln“, könne aber auch Schwindel hervorrufen? „Dann muss man überlegen, ob nicht eine geringere Dosis reicht oder es nicht auch eine Einlage tut...“.
Medikationspläne können helfen – wenn sie gepflegt werden
Repschläger kritisiert zudem, dass Klinik-Ärzte in Entlassbriefen nicht immer auf ein notwendiges „Ausschleichen“ der neu verordneten Medikamente hinweisen. Die dauerhafte Einnahme hoch dosierter Tabletten als Magenschutz (etwa: Pantoprazol oder Omeprazol) verringere aber die Aufnahme lebenswichtiger Mineralstoffe und die von Vitamin B12 – „und beide sind sehr wichtig für den Körper“. Grundsätzlich, glaubt die Pharmazeutin, werde im Medizin-Studium dem Thema Arzneimittel zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet werde.
Allerdings muss der Neurologe natürlich überhaupt erst einmal wissen, was Urologe und Internistin „seinem“ Patienten verschrieben haben. Zudem sei die Versorgung multimorbider Patienten, also solcher mit mehreren Erkrankungen zugleich, immer „anspruchsvoll“, räumt Repschläger ein. Deshalb habe aber, wer regelmäßig mehr als drei Medikamente nehme, in Deutschland auch Anspruch auf einen Medikationsplan. Der listet jede einzelne Arznei, Wirkstoff wie Handelsname, Dosierung und Grund der Verordnung auf. Bei jedem Arztbesuch legt der Patient den Plan vor, so die Idee. Mögliche Wechselwirkungen könnten so vermieden werden. „Sehr gute Idee“, sagt Repschläger, „doch sie wird nicht immer gut umgesetzt“, so ein Plan müsse schließlich auch gepflegt werden...
Sie wünschte sich: eine Art „U-Heft“ für Ältere, eine bessere Abstimmung aller beteiligten Mediziner auch im ambulanten Bereich, „dass sich die Politik endlich intensivermit dem Thema beschäftigt“ und dass mancher Betroffene vielleicht zu akzeptieren lerne: Weniger ist manchmal mehr.
>>> Der AOK-Gesundheitsreport 2022
Der Gesundheitsreport 2022 der AOK Rheinland/Hamburg liefert einen detaillierten Überblick über Entwicklungen in der regionalen Gesundheits- und Versorgungssituation an Rhein und Ruhr sowie in Hamburg.
Neben dem Thema Polypharmazie erschreckt auch, dass den Daten zufolge „Reserveantibiotika“ im Jahr 2019 noch immer fast die Hälfte (49 Prozent) aller Antibiotikaverschreibungen ausmachten. Solche Antibiotika sollten nur bei Infektionen durch multiresistente bakterielle Krankheitserreger zum Einsatz kommen, um Resistenzen zu vermeiden und ihre Wirksamkeit zu erhalten.