Ruhrgebiet. Menschen in NRW werden zu oft Schmerzmittel verordnet. Und chronische Schmerzen sind im Revier häufiger als anderswo. Was hilft?
Kranken Menschen in Nordrhein-Westfalen werden zu oft ungeeignete Schmerzmittel verordnet. Jeder dritter ambulante Patient über 18 – ohne Tumordiagnose – erhielt 2021 mindestens ein Schmerzmedikament; fünf Prozent gar ein Opiodwie Tilidin oder Morphin. 111.000 Herzinsuffizienz-Patienten bekamen zudem „nicht-steroidales Antirheumatika“ (NSAR) wie Ibuprofen oder Diclofenac – eine gefährliche Kombination. Das geht aus dem aktuellen Arzneimittelreport der Barmer-Krankenkasse hervor, der der WAZ exklusiv vorliegt.
Der durchschnittliche Patient
Der durchschnittliche Patient sieht in zehn Jahren 21 verschiedene Ärzte, muss zweimal stationär in einer Klinik behandelt werden, bekommt 37 Diagnosen, 80 Rezepte und 117 Arzneimittelpackungen – Zahlen, die die Barmer-Krankenkasse für die Jahre 2011 bis 2020 bei ihren bundesweit 7,6 Millionen Versicherten über 18 Jahren erhoben hat.
João Rodrigues, den neuen Landesgeschäftsführer der Barmer, überraschen die Zahlen, die auf Daten der landesweit 1,8 Millionen erwachsenen Versicherten beruhen: „Jedem Dritten werden Schmerzmittel ohne Tumordiagnose verordnet? Das sind hochgerechnet aufs Land 4,1 Millionen Menschen, sehr, sehr viele also!“ Rodrigues nennt das „alarmierend“, denn es drohten „Krankenhausaufenthalte und eine höhere Sterblichkeit“ – auch wenn Nicht-Opioide keine körperliche Abhängigkeit erzeugten. Metamizol (Novalgin) etwa komme oft nach Operationen oder Verletzungen zum Einsatz, auch bei Darmkoliken, Nieren- und Gallensteinen wird es gegeben . Allergische Reaktionen, lebensbedrohliche Blutbildungsstörungen seigen mögliche Nebenwirkungen – und doch wurde es 2021 insgesamt 14,2 Prozent der Barmer-Versicherten mindestens einmal verordnet.
Medikationsplan nutzen, pflegen – „und stets bei sich tragen“
Dass so viele herzkranke Patienten NSAR-Schmerzmittel verordnet wurden, erschreckt den Barmer-Landeschef besonders – er selbst leide an einer Herzinsuffizienz, erzählt er im Gespräch, und achte penibel darauf, bei fiebrigen Infekten, gelegentlichen Kopf-, Rücken- oder anderen Schmerzen niemals zu Ibuprofen oder ähnlichen Mitteln zu greifen – die typischerweise dafür verschrieben würden. Herzinsuffizienz wird oft mit ACE-Hemmern (Blutdrucksenkern) und Diuretika (entwässernden Medikamenten) behandelt. Gleichzeitig NSAR-Arzneien zu nehmen, kann zu akutem NIerenversagen führen. Ärzte sprechen vom „Triple Whammy“. Das wahre Ausmaß dieses „besorgniserregenden Negativbeispiels“, führt Rodrigues aus, könne der neue Report nicht einmal abbilden. Denn Ibuprofen, Diclofenac und Co sind auch rezeptfrei erhältlich.
Jeder Patient, der mindestens drei systemisch wirkende Arzeneimttel gleichzeitig einnehme, erläutert der Barmer-Geschäftsführer, habe Anspruch auf einen „Medikationsplan“. Er wirbt dafür, ihn zu nutzen, zu pflegen – „und stets bei sich zu tragen“. Den eigenen habe er auf dem Handy abgelegt. Um die Risiken der Schmerzmitteltherapie zu minimieren, werde man zudem nicht ohne digitale Unterstützung auskommen: Helfer wie die elektronische Patientenakte oder „AdAM“, eine Software die die Barmer in den letzten Jahren in knapp 1000 Praxen der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe testete. Ärzten und Ärztinnen zeigt sie gleich bei der Verordnung von Arzneien mögliche Neben- oder Wechselwirkungen an. Die dadurch bedingte Sterblichkeit von Polypharmazie-Patienten konnte so um bis zu 20 Prozent gesenkt werden. An einer Umsetzung in die Regelversorgung werde derzeit gearbeitet, so Rodrigues.
Gravierende Unterschiede bei der Häufigkeit von chronischem Schmerz in NRW
Exklusiv liegen der WAZ zudem die jüngsten Zahlen des Barmer-Instituts für Gesundheitssystemforschung hervor, der Abrechnungsdaten aus dem Jahr 2021 zum Thema „Chronischer Schmerz“ analysiert hat. 584 von 10.000 Menschen in Nordrhein-Westfalen leiden demnach an solchen Schmerzen, die länger als sechs Monate anhalten und nicht nur zu körperlichen Einschränkungen führen können. „Schmerz ist auch ein seelisches Leiden“, erläutert Rodrigues.
NRW liegt nur knapp über dem Bundesdurchschnitt von 571 Betroffenen – aber die regionalen Unterschiede im Land sind gravierend. Vor allem im Ruhrgebiet, zeigen die Zahlen, sind überdurchschnittlich viele Menschen betroffen: 1.056 etwa in Herne (damit liegt die Stadt landesweit auf Platz 1), 886 in Gelsenkirchen und 776 in Bochum. Die wenigsten Menschen (370) leiden übrigens im Stadtstaat Hamburg an chronischen Schmerzen.
„Schmerz macht den Alltag zur Tortur“
„Wir betreiben keine Ursachenforschung“, entgegnet der Barmer-Landeschef auf die Frage nach den Gründen für die regionalen Unterschiede. Seiner „privaten Meinung“ zufolge, er selbst kommt aus Mülheim, spiegelten die Zahlen aber die Gesamtlage und sozi-demograhische Faktoren wieder: „Gucken Sie sich die Städte mit den hohen Zahlen an, das sind nicht die, die prosperieren.“
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„Schmerz macht den Alltag zur Tortur“, weiß Rodrigues. Und eine „Therapie von der Stange“ helfe nicht. Gefragt sei ein ganzheitlicher, „multimodales Behandlungsansatz“, ein Mix aus Physio- und Psychotherapie sowie sozialer Ansätze. Sehr gut angenommen werde etwa das Projekt „Pain 2.0“ der Deutschen Schmerzgesellschaft. Die Barmer ist einer der Partner, im Ruhrgebiet sind zudem das Bochumer Bergmannsheil und das Essener Universitätsklinkum beteiligt. Man arbeite schon am Folgeprojekt, „Pain 3.0“. Dabei solle es vor allem um die digitale Zusammenarbeit von Haus- und Fachärzten gehen.
Wie aus dem Barmer-Atlas weiter hervorgeht, tritt chronischer Schmerz nicht erst im Rentenalter auf. Zwischen 50 und 59 Jahren leiden in NRW bereits 740 von 10.000 Einwohnern darunter, in der Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Fischerei sind es sogar 755