Mülheim. Nach einem Polizeieinsatz im Mülheimer Flüchtlingsdorf im Januar 2024 war junger Guineer gestorben. Noch immer sind entscheidende Fragen offen.

Wilde Szenen sollen sich abgespielt haben an jenem Samstagabend des 6. Januar 2024 im Mülheimer Flüchtlingsdorf an der Mintarder Straße. Ein Jahr später ist immer noch unklar, warum der junge Guineer Ibrahima Barry kurz nach jenem turbulenten wie tragischen Polizeieinsatz sein Leben ließ.

Zum Polizeieinsatz an jenem Samstagabend in der Flüchtlingsunterkunft auf dem alten Saarner Kirmesplatz ist bis jetzt von behördlicher Seite folgende Schilderung bekannt: So soll der im Flüchtlingsdorf eingesetzte Sicherheitsdienst an jenem Tag gegen 20.30 Uhr die Polizei zur Hilfe gerufen haben, weil Ibrahima Barry dort randaliert haben soll. Die Staatsanwaltschaft gab später auf Nachfrage preis, „dass der Verstorbene nach den bisherigen Erkenntnissen unter Äußerung einer Drohung auf einen Mitarbeiter der Einrichtung zugerannt ist“.

Drei Polizisten trafen Barry in seinem Zimmer in der Mülheimer Flüchtlingsunterkunft an

Drei Beamte der herbeigerufenen Polizei sollen Barry bei ihrer Ankunft in seinem Zimmer angetroffen haben. Aber es soll dem Trio nicht gelungen sein, den jungen Guineer zu beruhigen oder zu fesseln, um seinen mutmaßlich massiven Widerstand zu bändigen. Der Guineer habe die Beamten massiv angegriffen, hieß es. „Mindestens zwei“ der Beamten hätten Bissverletzungen davongetragen. Der Einsatz im Zimmer sei dokumentiert durch Bodycams. Schließlich sei es dem Guineer gar gelungen, aus dem knapp 17 Quadratmeter großen Zimmer zu flüchten. Wie ihm das gelingen konnte, blieb mit Verweis auf ermittlungstaktische Gründe wie anderes bis heute nicht erklärt. Eine Waffe habe Barry jedenfalls nicht gehabt, hieß es.

Flucht und Verfolgung sollen sich über einen Flur auf einen Innenhof bewegt haben. Insbesondere aber das, was sich nach Barrys Flucht auf das Außengelände abgespielt hat, bleibt unklar. „Dort setzte einer der Polizeibeamten ein Distanzelektroimpulsgerät ein“, zitierte das Innenministerium im Vorjahr die Leitende Oberstaatsanwältin. Zwei Schüsse aus ein- und derselben Taserwaffe sollen abgefeuert worden sein, weil sich Barry „weiter erheblich gewehrt“ habe. Die Polizei hatte seinerzeit verlautbart, dass es während des Einsatzes auch zu einem Tritt gegen den Kopf einer Beamtin gekommen sei.

Das Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Duisburg dauert auch nach einem Jahr noch an

Welche Situation indes dem Taser-Einsatz vorhergegangen war, ist unklar. War der Einsatz der Taserwaffe verhältnismäßig? Ist Ibrahima Barry am gleichen Tag gegen 21.50 Uhr in einem Krankenhaus an den Folgen eben dieses Taser-Einsatzes gestorben? Diese wesentlichen Fragen sind bis heute unbeantwortet. Das Ermittlungsverfahren gegen letztlich neun beteiligte Polizeibeamtinnen und -beamte läuft nach aktueller Auskunft von Staatsanwältin Melanie Anderhub weiter.

Ein Bild vom Polizeieinsatz am 6. Januar 2024 in der Mülheimer Flüchtlingsunterkunft an der Mintarder Straße.
Ein Bild vom Polizeieinsatz am 6. Januar 2024 in der Mülheimer Flüchtlingsunterkunft an der Mintarder Straße. © dpa | JUSTIN BROSCH

Ein erstes toxikologisches Gutachten hatte laut Staatsanwaltschaft ergeben, dass Barry zum Zeitpunkt des Polizeieinsatzes unter akutem Kokain-Einfluss gestanden hat. Auch war die Rede von nicht unerheblichen Vorerkrankungen des jungen Mannes, dessen Alter anfangs mit 23 beziffert worden war, aber wohl nicht exakt zu bestimmen war. Barry soll unter einer COPD-Erkrankung sowie einer rechtsseitig muskelkräftigen Belastung des Herzens gelitten haben. Laut Ermittlungsbehörde soll eine Notärztin Barrys Zustand nach dem Einsatz „zunächst als stabil eingeschätzt“ haben. Erst im Rettungswagen, der den Guineer in eine psychiatrische Einrichtung bringen sollte, sei es zum Herzstillstand und zur Reanimation gekommen. Ibrahima Barry sei gegen 21.50 Uhr im Krankenhaus verstorben.

Vorläufiges Ermittlungsergebnis: Einsatz des Tasers soll nicht Ursache sein für Barrys Tod

Zwischenzeitlich seien mehrere Sachverständigengutachten eingeholt worden, die Aufschluss über die Todesursache und die Rechtmäßigkeit des polizeilichen Einsatzes geben sollen, berichtete Staatsanwältin Anderhub nun anlässlich des Jahrestages auf Nachfrage dieser Redaktion. Derzeit würden die Gutachten „in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht ausgewertet“. Zusammen mit den übrigen Ermittlungsergebnissen, insbesondere den Zeugenvernehmungen und den Auswertungen von Taserwaffe, Bodycam und gegebenenfalls weiteren Einsatzmitteln sei schließlich eine rechtliche Bewertung vorzunehmen.

Was neu ist, ist die Aussage Anderhubs, dass das vorläufige Ermittlungsergebnis nicht davon ausgehe, „dass der Einsatz des Distanzelektroimpulsgerätes (mit-)ursächlich für den Todeseintritt gewesen wäre“. Die Ermittlungen aber nähmen vor allem mit Blick auf die dynamische Einsatzlage, die mehrere Handlungsabschnitte umfasse, und der Vielzahl an Beteiligten noch einige Zeit in Anspruch. „Aufgrund der laufenden Ermittlungen vermag ich derzeit keine darüber hinausgehenden Auskünfte zu erteilen“, so Anderhub.

Solidaritätskreis „Justice for Ibrahima Barry“ kündigt erneute Kundgebung in Mülheims Innenstadt an

Derweil kündigt der Solidaritätskreis „Justice for Ibrahima Barry“ anlässlich des Todestages des jungen Guineers für Sonntag, 19. Januar, ab 14 Uhr auf dem Kurt-Schumacher-Platz vor dem Forum erneut eine Kundgebung an. Der Solidaritätskreis fordert eine „lückenlose und öffentliche“ Aufklärung des Falls Barry. Man sehe den Tod des jungen Mannes „in Kontinuität mit den zahlreichen anderen Todesfällen im Zuge von Polizeieinsätzen in Deutschland, von denen vor allem Migrant*innen, Schwarze Menschen, People of Color und Personen in psychischen Ausnahmesituationen betroffen sind“, heißt es in einer Erklärung.

Der Solidaritätskreis verweist auch auf den Dortmunder Fall von Mouhamed Lamine Dramé, bei dem beteiligte Polizisten vom Landgericht Dortmund jüngst freigesprochen worden sind. Der Solidaritätskreis vertritt die Meinung, dass es einer „grundlegenden Aufarbeitung des systematischen und tödlichen Rassismus der Polizei“ bedürfe und Konsequenzen zu ziehen seien. 

Ein Solidaritätskreis fordert „Justice for Ibrahima Barry“ und ruft zur Teilnahme an einer Kundgebung am 19. Januar in Mülheims Innenstadt auf.
Ein Solidaritätskreis fordert „Justice for Ibrahima Barry“ und ruft zur Teilnahme an einer Kundgebung am 19. Januar in Mülheims Innenstadt auf. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

Viele Fragen seien im Fall Barry ungeklärt, etwa diese: Habe die Polizei überhaupt versucht, deeskalierend vorzugehen? Sei Barry mit einem Knie auf dem Rücken fixiert worden wie im Fall von George Floyd? Was sei dem Taser-Einsatz vorausgegangen? Dokumentierten die vorliegenden Bodycam-Aufnahmen der Polizei den Einsatz lückenlos? Sei auf ihnen auch Polizeigewalt dokumentiert? Sei Barry unverzüglich ärztlich versorgt worden? „Wir wollen klare Antworten auf all diese Fragen“, so der Solidaritätskreis.

Der Tod des Guineers in Mülheim – so berichteten wir

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