Mülheim/Bochum. Todesursache des jungen Guineers nach Polizeieinsatz noch nicht abschließend geklärt. Lag es am Taser? Es könnte etwas anderes sein.

Der nach einem Polizeieinsatz in Mülheim gestorbene Flüchtling stand unter Drogen. Die Obduktion seines Leichnams ergab am Montagvormittag zwar noch keine genauen Hinweise auf die Todesursache, fest steht nach Angaben der Ermittler aber, dass der Guineer erheblich vorerkrankt war. Weitere medizinische Untersuchungen sollen folgen.

Damit bleibt vorerst auch unklar, ob der zweimalige Einsatz eines „Distanzelektroimpulsgeräts“, eines so genannten Tasers, mit zum Tod des jungen Guineers geführt haben könnte. Die Geräte werden derzeit auf mögliche technische Mängel überprüft. Die ersten toxikologischen Untersuchungen des Blutes ergaben nach Angaben der Polizei, dass der Mann Kokain genommen hatte. Zudem entdeckten die Rechtsmediziner schwere Vorerkrankungen. Welchen Einfluss diese hatten, müssen nun aufwändige Laboruntersuchungen klären. Mit detaillierten Ergebnissen, so ein Sprecher, ist erst in einigen Wochen zu rechnen.

In den Holzbaracken an Mülheims Mintarder Straße sind vor allem ukrainischen Frauen mit ihren Kindern untergebracht.
In den Holzbaracken an Mülheims Mintarder Straße sind vor allem ukrainischen Frauen mit ihren Kindern untergebracht. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

Alter des Verstorbenen kann noch nicht geklärt werden

Nicht abschließend geklärt ist zudem das Alter des Westafrikaners: Das war zunächst mit 26 Jahren angegeben worden, nach erkennungsdienstlicher Behandlung korrigierten die Ermittler am Montag auf 23 Jahre. Aber auch das konnte die Forensik in ihrem ersten Gutachten nicht bestätigen, möglicherweise sei der Mann doch älter. Nach Informationen von Polizei und Staatsanwaltschaft war er in der Vergangenheit bereits mehrfach unter verschiedenen Alias-Namen aufgefallen und hatte unterschiedliche Geburtsdaten angegeben. Auch um diese Hintergründe zu klären, werden die Rechtsmediziner noch einige Zeit benötigen.

Der Flüchtling aus Guinea hatte nach Angaben der Staatsanwaltschaft Duisburg am Samstagabend in der kommunalen Erstaufnahmeeinrichtung im Stadtteil Saarn randaliert. Der örtliche Sicherheitsdienst rief die Polizei. Nach den Erkenntnissen hatte der Westafrikaner zuvor bereits wiederholt und auch an jenem Abend Mitarbeiter der Unterkunft angegriffen. Zeugen erklärten gegenüber der „Bild“-Zeitung, der Mann habe unter Stress gestanden, man habe schon häufiger Angst vor ihm gehabt.

Warum blieb der Taser ohne Wirkung?

Bei Eintreffen der Einsatzkräfte wurde der Guineer auch gegenüber den Polizisten „aggressiv und körperlich übergriffig“. Das „dynamische Geschehen“ trug sich zunächst in seinem Zimmer in den Holzbaracken auf Mülheims ehemaligem Kirmesplatz zu und verlagerte sich von dort in einen Flur und den Innenhof der Unterkunft. Gegen die Polizeibeamten leistete der Mann erheblichen Widerstand, worauf diese zweimal den Taser einsetzten, „ohne dass eine Wirkung zu erkennen war“.

Die Mülheimer Flüchtlingsunterkunft liegt zwischen dem Stadtteil Saarn und der Ruhraue.
Die Mülheimer Flüchtlingsunterkunft liegt zwischen dem Stadtteil Saarn und der Ruhraue. © www.blossey.eu / FUNKE Foto Services | Hans Blossey

Der Polizei gelang es schließlich trotzdem, den sich heftig wehrenden Mann zu überwältigen und vorläufig festzunehmen. Dabei wurden zwei Polizisten durch Bisse und eine Kollegin durch einen Tritt gegen den Kopf verletzt. Mehrere Rettungswagen rückten an, auch für die verletzten Einsatzkräfte. Im RTW verlor der Westafrikaner während seiner Behandlung das Bewusstsein und musste wiederbelebt werden. Er starb im Krankenhaus.

Polizeipräsidium Bochum hat die Ermittlungen übernommen

Die Staatsanwaltschaft Duisburg und die aus Gründen der Neutralität ermittelnde Polizei Bochum gehen davon aus, die genauen Abläufe vollständig nachvollziehen zu können: Die Körperkameras (Bodycams) der Polizisten waren eingeschaltet, haben offenbar zuverlässig aufgezeichnet. Bild und Ton werden derzeit ausgewertet.

Für die Ermittler ist der Verstorbene jedenfalls kein unbeschriebenes Blatt. „Umfänglich polizeibekannt“ sei er gewesen, die Strafakte dick. Über mehrere Jahre, die der Asylbewerber sich bereits in Deutschland aufhielt, ist er mit Taten quer durchs Strafgesetzbuch aufgefallen: Neben den falschen Angaben zu seiner Person mit Drogendelikten, Diebstahl bis hin zu Gewalttaten. Genauere Angaben machte die Polizei zunächst nicht.

Auch die Stadt Mülheim wollte am Montag keine Einzelheiten bekanntgeben. „Wegen der laufenden Ermittlungen“, erklärte Sozialdezernentin Daniela Grobe dieser Zeitung, werde es derzeit „keine weiteren Auskünfte“ geben. Damit bleibt vorerst auch offen, wie lange genau der Guineer bereits in der Stadt lebte, wie das Ausländeramt auf sein Strafblatt reagiert hat und warum der junge Mann in Saarn untergebracht war: Es gibt dort zwar einen 24 Stunden präsenten Wachdienst, in den Holzhäusern sind aber vor allem ukrainische Frauen mit ihren Kindern untergebracht.

Landtag erwartet Einsatzbericht in der kommenden Woche

In der kommenden Woche wird der Fall ein parlamentarisches Nachspiel haben. Die SPD-Opposition im Landtag erwartet spätestens in der nächsten Sitzung des Innenausschusses einen Einsatzbericht von NRW-Innenminister Hebert Reul (CDU). „Ich gehe davon aus, dass Innenminister Reul den Landtag umgehend über die Erkenntnisse informieren wird. Einen entsprechenden Bericht werden wir dazu anfordern“, sagte SPD-Innenexpertin Christina Kampmann unserer Redaktion. Der Innenausschuss kommt regulär am 18. Januar zum ersten Mal nach dem Jahreswechsel wieder zusammen.

Kampmann forderte Besonnenheit bei der Aufklärung und zugleich Entschiedenheit in der Sache: „Der Vorfall ist dramatisch und muss selbstverständlich minutiös aufgeklärt werden. Noch wissen wir viel zu wenig, was Ursache war und zu diesem schrecklichen Ausgang geführt hat.“

Umstrittener Taser: Schwarz-Grün in NRW wartet auf Evaluationsbericht

Der Taser als Einsatzmittel der Polizei ist schon länger umstritten. CDU und Grüne haben sich vor anderthalb Jahren in ihrem Koalitionsvertrag darauf verständigt, bereits gekaufte Geräte noch an weitere Polizeidienststellen auszuliefern, zugleich aber bis 2024 wissenschaftlich Bilanz ziehen zu lassen. In einer vertraulichen Dienstanweisung für die Polizei wird ausdrücklich vor dem Einsatz der Elektropistolen „zur Bewältigung von dynamischen Lagen“ gewarnt. Die sogenannten Distanzelektroimpulsgeräte (DEIG) sollen eigentlich durch den Abschuss von zwei Elektroden einen Angreifer durch einen Stromstoß nur kurzzeitig außer Gefecht setzen. Teile der Grünen stufen die Gesundheitsrisiken als zu hoch ein.

Sendet Stromimpulse: das Distanz-Elektroimpulsgerät (DEIG oder auch Taser), wie es in NRW zum Einsatz kommt. Hier wird es im Trainingsmodus ohne scharfe Munition gezeigt.
Sendet Stromimpulse: das Distanz-Elektroimpulsgerät (DEIG oder auch Taser), wie es in NRW zum Einsatz kommt. Hier wird es im Trainingsmodus ohne scharfe Munition gezeigt. © dpa | Rolf Vennenbernd

Polizei verteidigt den Taser: Oft reicht im Einsatz schon die Drohung

Die Polizei verteidigte den Taser bislang stets als milderes Einsatzmittel als die Schusswaffe. Im vergangenen Jahr hatten die Beamten nach einer ersten Bilanz bis Anfang Dezember 1245 Mal den Taser gezogen. Im Jahr 2022 gab es im gleichen Zeitraum nur 734 Einsätze der Elektroschockpistole. Wie das Innenministerium betonte, reichte in den allermeisten Fällen die Drohung, den Taser auszulösen. Wirklich geschossen wurde demnach nur in jedem fünften Fall.

Im Sommer 2022 war der Taser zuletzt in die Kritik geraten, als im Zuge eines missglückten Polizeieinsatzes in Dortmund ein 16-jähriger Flüchtling getötet wurde. Der Elektroschocker hatte offenkundig seine Wirkung verfehlt, kurz darauf fielen damals tödliche Schüsse aus einer Polizei-Maschinenpistole. Der Fall hatte bundesweit für Aufsehen gesorgt. Mehrere Beamte müssen sich zurzeit vor dem Landgericht Dortmund verantworten.

Bewohnern des Mülheimer Flüchtlingsdorfs wird angeboten, mit Notfallseelsorgern zu sprechen

In der Mülheimer Flüchtlingsunterkunft herrschte am Tag nach dem Vorfall eine „sehr ruhige Stimmung“, berichtet Stefanie Spielhagen vom Deutschen Roten Kreuz, die das Flüchtlingsdorf an der Mintarder Straße in Saarn leitet. Um das Erlebte verarbeiten zu können, wurde allen Bewohnern angeboten, Gespräche mit Notfallseelsorgern zu führen.

Sozialdezernentin Daniela Grobe versteht, dass die Menschen in der Unterkunft „aufgewühlt“ sind.
Sozialdezernentin Daniela Grobe versteht, dass die Menschen in der Unterkunft „aufgewühlt“ sind. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

Mülheims Sozialdezernentin Daniela Grobe war noch in der Nacht von dem tödlichen Ausgang des Polizeieinsatzes an der Einrichtung informiert worden. „So etwas wühlt die Menschen in der Unterkunft natürlich auf“, sagte Grobe und verwies auf die Maßnahmen des Notfallmanagements, etwa die angebotene Seelsorge. „Wir wollen bestmöglich Ruhe in der Einrichtung gewähren und die Menschen damit nicht alleine lassen.“

Im Saarner Flüchtlingsdorf, das die größte städtische Unterkunft für Geflüchtete in Mülheim ist, wohnen überwiegend Menschen aus der Ukraine. Mit Stand vom Freitag, 5. Januar, waren nach Auskunft der Stadt dort 133 Geflüchtete untergebracht. Veranlasst worden sei nach dem Vorfall seitens der Stadt, berichtet Mülheims Sozialdezernentin, dass „alle Informationen, die uns über den Verstorbenen vorliegen, zusammengetragen werden“. Weiteres müssten die Ermittlungen der Bochumer Polizei klären. mit kab/tobi