An Rhein und Ruhr. Die Versammlungsfreiheit ist im Grundgesetz garantiert. Tatsächlich gingen zuletzt Tausende auf die Straße. Was treibt die Menschen an?
Hunderttausende gehen für Demokratie und gegen Rechtsextremismus auf die Straße. Wenige Tausend Islamisten forderten in Essen und erst kürzlich in Hamburg ein Kalifat. Klimaaktivisten und protestierende Bauern legen aus unterschiedlichen Gründen den Verkehr lahm. Und viele machen auf den Straßen ihren Wunsch nach Frieden – wenn auch zu unterschiedlichen Bedingungen – in der Ukraine und dem Nahen Osten Luft.
Artikel 8 des Grundgesetzes
Kaum ein Aspekt des Grundgesetzes hat derart häufig mit dem Vorwurf der „Zweischneidigkeit“ zu kämpfen, wie Artikel 8. Denn die Freiheit zur Versammlung steht „Allen Deutschen“ zu, wie es im Grundgesetz heißt. Meinungsgleichheit gibt es auf der Straße und oft sogar auf denselben Veranstaltungen nicht.
Jedoch machen auch immer wieder Versammlungsteilnehmer mit Aussagen am Rande des Ertragbaren, wenn nicht sogar der Legalität, Schlagzeilen. Die Versammlungsfreiheit kann daher auch eingeschränkt werden, sollten andere Gesetze verletzt werden (zum Beispiel, wenn dort verfassungsfeindliche oder etwa volksverhetzende Inhalte propagiert werden sollten).
In diesem Spannungsfeld zeigte sich in den vergangenen Monaten aber auch, wie viele Menschen bereit sind, auf die Straße zu gehen, wenn sie die freiheitlich-demokratische Gesellschaft in Gefahr sehen. So lieferten die Correctiv-Recherchen zur AfD im Januar Anlass für Hunderttausende an größeren und kleineren Protestveranstaltungen teilzunehmen.
Anti-AfD-Demos: Veranstalter überrascht von großer Beteiligung
„Wir haben anfangs eigentlich damit gerechnet, dass wir nur ein paar hundert Menschen mobilisieren“, erinnert sich Christian Baumann, einer der Sprecher des Bündnisses „Essen stellt sich quer“ (abgekürzt: ESSQ). Man habe damals im Januar 2024 nach den Veröffentlichungen von Correctiv etwas auf die Beine stellen wollen, sagt er. Ohne lange Planungszeit und trotz des schlechten Wetters. „
Am Ende waren wir dann mit 7000 Teilnehmern auf der Straße.
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Ebenfalls über eine große Mobilisierung berichtet auch Oliver Ongaro vom Netzwerk „Düsseldorf stellt sich quer“ (kurz: DSSQ). „Man hat gemerkt, da geht ein Ruck durch das Land“, erzählt er. „Es hat so gewirkt, als wäre das jetzt der Tropfen, der das Fass für viele zum Überlaufen gebracht hat.“ Dabei betont Ongaro aber auch, dass viele Standpunkte der AfD ja bereits bekannt gewesen seien. Viele Menschen seien nun aber nochmal stärker sensibilisiert und auch die Veranstalter spürten deutlich, wie besorgt viele Bürger seien.
Demos als Startpunkt für langfristiges gesellschaftliches Engagement
Dabei endet das Engagement der Menschen auch nicht auf der Straße. „Demos sind ein guter Startpunkt“, sagt Christian Baumann vom Essener Bündnis. Hier zeigten die Teilnehmer nicht nur Gesicht und eine deutliche Botschaft nach außen. „Es ist auch eine Versicherung nach innen, es zeigt den anderen, dass man nicht alleine ist.“ Im Idealfall wandele sich die Mobilisierung auf den Straßen dann auch in langfristiges Engagement. „Das fängt schon ganz klein an“, so Baumann. „Seien es Sprachschulen, Integrationskurse, selbst Fahrradwerkstätte – überall dort, wo Demokratie und Gemeinschaft gelebt wird.“
Da in den letzten Monaten auch viele Menschen zum ersten Mal auf die Straße gingen, plant „Essen stellt sich quer“ Ende Juni nochmal eine besondere Veranstaltung, erklärt er. Im Rahmen eines großen Protestprogramms zum Bundesparteitag der AfD, will man auch einen sogenannten Markt der Möglichkeiten organisieren. Hier sollen sich lokale Initiativen präsentieren können, es aber auch weitere Denkanstöße für langfristiges soziales Engagement geben. „Wir wollen zeigen, was es alles gibt und dass für jeden etwas dabei ist“, so Baumann.
Neue Strukturen und Initiativen entstehen aus Protestbewegung
Auch in Düsseldorfer Zentrum für Aktion, Kultur und Kommunikation (zakk) veranstaltete DSSQ erst vor wenigen Wochen am 21. April einen Workshop-Tag unter dem Titel „Wie weiter?“. Über 300 Teilnehmer – viele davon zum ersten Mal bei einer derartigen Veranstaltung, so Ongaro – diskutierten über und erarbeiteten Ideen, langfristige Strukturen für Engagement zu etablieren. Aber auch andere Veranstaltungen wie ein Protestkonzert und eine Kunstauktion erhielten starken Zulauf und Unterstützung.
Am Rande des Konzerts gegen Rechts sei, laut Ongaro, so auch die Initiative „Kein Alt für Nazis“ entstanden. Hier vernetzen sich unter anderen Kulturschaffende und Kneipen, um auf thematisch gestalteten Bierdeckeln und Plakaten Position gegen Rechts zu beziehen. „Dabei ist es aber auch wichtig, nicht immer nur gegen etwas zu sein“, erklärt Ongaro. „Wir wollen ja auch Menschen zusammenbringen, um gesellschaftlich etwas zu gestalten.“ Dies sei auch eine gute Möglichkeit, dem zunehmenden Rechtsruck etwas entgegenzusetzen.
Auf die Straße gehen: gelebte Demokratie in Aktion
„Wir in Deutschland haben es ja noch recht gut, gerade wenn man ins übrige Europa schaut“, so der Düsseldorfer. „Wir sehen ja hier immer wieder, wie stark engagiert die Zivilbevölkerung ist.“ Auf die Straße zu gehen und sich stark zu machen, sei gelebte Demokratie, so Ongaro. Gesehen habe man die positiven Auswirkungen von solchen Massenbewegungen schon zu Beginn der Flüchtlingskrise, als die Menschen an den Bahnhöfen standen. Aber auch schon beim Atomausstieg habe die Klimabewegung gezeigt, was von der Straße aus erreicht werden kann, erklärt er.
„Demokratie stärkt man immer dann, wenn man mit anderen Demokraten ins Gespräch kommt und sich vernetzt“, erklärt Christian Baumann. Zu häufig liege der Fokus auf den Feinden der Demokratie – diese dürften nicht den Diskurs bestimmen. Und die letzten Monate hätten gezeigt, dass eine mobilisierte Zivilgesellschaft deutlich dagegen halten kann.
Was die Bündnisse als Nächstes planen
Sowohl „Essen stellt sich quer“ als auch das Düsseldorfer Äquivalent haben im Vorlauf der Europawahl mit einigen Veranstaltungen sowohl zur Wahl demokratischer Parteien aufgerufen als auch bewusst gegen die AfD Stellung bezogen. Gerade in Düsseldorf wurden nach einem Aufruf von DSSQ und anderen Initiativen mehrere Wahlkampfveranstaltungen der Partei von Protesten begleitet.
Doch bereits nach der Wahl am 9. Juni bereiten sich die Bündnisse auf den Bundesparteitag der Alternative für Deutschland vor, der am 29. und 30. Juni in Essen stattfinden soll. Das Essener Bündnis hat hier bereits ein über mehrere Tage angelegtes Demonstrations- und Veranstaltungsprogramm angekündigt und auch DSSQ will hier unterstützen. Weitere Informationen hierzu finden sich auf den Auftritten der beiden Gruppen in den sozialen Medien.
Mehr aus unserer Serie zum Geburtstag des Grundgesetzes
- Teil 1: In guter Verfassung? Wie das Grundgesetz entstand – und wo
- Teil 2: Ein Morgen in Düsseldorf: Nicole sucht nach Pfand in 200 Mülleimern
- Teil 3: Alleinerziehende: Warum es Mütter schwerer haben als Väter
- Teil 4: Verfassungsschützer will die Vorratsdatenspeicherung
- Teil 5: Grundgesetz: Homosexuelle sind noch immer ohne Anerkennung
- Teil 6: Eigentum verpflichtet: Millionenerbin über die Probleme ungerechter Verteilung
- Teil 7: Religionsfreiheit: Wie steht es um das Verhältnis von Staat und Kirche