Münster. Eigentlich nichts, findet Prof. Hinnerk Wißmann, Religionsverfassungsrechtler. Er findet: Das Grundgesetz taugt auch für den multireligiösen Staat.
Prof. Hinnerk Wißmann gilt als einer der bedeutendsten Experten für Religionsverfassungsrecht im Lande. An der Universität Münster ist er einer der führenden Köpfe des „Exzellenzclusters Religion“. Er findet: die Regeln des Grundgesetzes zum Verhältnis von Kirche und Staat tragen noch immer – obwohl sie zu einer Zeit formuliert wurden, in dem fast alle Deutschen Christen waren.
Als das Grundgesetz 1949 beschlossen wurde, bekannten sich 97 Prozent der Bundesbürger zu einer der beiden großen christlichen Kirchen. Heute sind weniger als die Hälfte der Menschen noch evangelisch oder katholisch. Wird unsere Verfassung der deutlich säkulareren und religiös vielfältigeren Wirklichkeit noch gerecht?
Das Grundgesetz schützt in Artikel 4 die Religionsfreiheit zunächst als individuelles Grundrecht. Das hängt nicht davon ab, ob es Volkskirchen gibt, Grundrechte sind gerade auch Minderheitenschutz. Auch der weitergehende Schutz, der aus dem berühmten Kirchenartikel der Weimarer Verfassung herrührt, die das Grundgesetz übernommen hat, ist nicht notwendig mit dem Christentum verknüpft. Das Grundgesetz ist also in der Lage, auch mit einer veränderten demografischen religiösen Situation umzugehen.
Wir erleben aber, dass unter dem Schutz der Religionsfreiheit antidemokratische Forderungen gestellt werden. Da wird auf Demonstrationen deklamiert: „Das Kalifat ist die Lösung.“
Zunächst mal sind derlei Demonstrationen auch durch das Grundrecht der Meinungsfreiheit und der Versammlungsfreiheit geschützt. Wir wissen ja auch, dass Religionen, anders als unser Staat, nicht zwingend demokratisch organisiert sind – über Glaubenssätze kann man nicht abstimmen. Wenn Menschen sich entschließen, sich zu einer Religion zu bekennen und nach deren Regeln zu leben, muss ein liberaler Staat das einerseits akzeptieren – und zugleich ist es seine Aufgabe, die Demokratie gegen religiöse Machtansprüche zu verteidigen.
Schwierig wird es aber doch insbesondere dort, wo staatliche Gewalt, beispielsweise die Rechtsprechung, unterlaufen wird, weil konkurrierende, religiöse Rechtssysteme existieren, wie etwa das kirchliche Arbeitsrecht oder das islamische Recht der Scharia oder die berühmten „Friedensrichter“.
Zunächst einmal kann man bei den Kirchen durchaus beobachten, dass es Lernprozesse gibt. Früher existierte da eine sehr starke Abschottung unter der Berufung auf kirchliche Selbstverwaltungsrecht. Heute gibt es eine flexiblere Haltung, die die Wertungen des staatlichen und europäischen Arbeitsrechts mitberücksichtigt. Im Übrigen ist erst einmal nichts dagegen einzuwenden, dass sich Menschen an einen Vermittler wenden und auf diesem Wege eine Einigung erzielen – wie große Firmen das vor Schiedsgerichten auch tun.
Bei Familienstreitigkeiten mag das gelten, aber es geht oft auch um Offizialdelikte. Also Straftaten, von denen der Staat sagt: Hier will ich als Staat ermitteln und gegebenenfalls auch ein Urteil sprechen.
Das staatliche Recht ist gerade dazu da, auch Schwache zu schützen. Das darf durch Friedensrichter oder Schariagerichte niemals ausgehöhlt werden. Aber wenn Menschen sich in freier Entscheidung auf eine Lösung einigen, dann sollte ein freiheitlicher Staat das in der Regel hinnehmen.
Aber die Selbstbestimmung in Freiheit ist dem oder der Einzelnen ja nicht oder nur teilweise gegeben. Gerade Frauen, da viele Religionen ein eher patriarchal geprägtes Wertesystem haben, das konträr ist zum Gleichheitsanspruch des Grundgesetzes.
Für das Grundgesetz kommt es darauf an, individuelle Freiheit zu entwickeln und wirksam zu schützen, das zielt gerade auch auf den Schutz der Frauen, das Grundgesetz fordert die „tatsächliche Gleichberechtigung“ der Geschlechter. Unter dieser Voraussetzung allerdings wird gehalten, unterschiedliche Lebensformen als Ausdruck von Selbstbestimmung zu verstehen. Deswegen ist eine besonders interessante Frage, wie Religion und Erziehung zusammengehen.
Das findet seinen Widerhall ja auch im Artikel 7 Abs. 3 Grundgesetz, in dem der Religionsunterricht auch an öffentlichen Schulen festgeschrieben ist.
Richtig, Deutschland legt traditionell großen Wert auf eine starke staatliche Erziehung, viel stärker als alle anderen Verfassungsstaaten. Wir verpflichten religiöse Menschen darauf, dass der Staat ihre Kinder erzieht. Dafür aber geben wir eben auch in staatlichen Schulen Raum für Religion. In gewisser Weise bedingt sich das einander.
Wie problematisch religiöse Forderungen an Schulen werden können, hat man ja kürzlich beispielsweise in Neuss gesehen, wo islamische Schüler Gebetsräume und Geschlechtertrennung gefordert haben.
Das ist sicher ein extremes Beispiel. Geschlechtertrennung gibt es allerdings etwa im Sportunterricht ganz traditionell an vielen öffentlichen Schulen, natürlich gibt es nach wie vor auch katholische Mädchenschulen. Und wenn einerseits Schulgottesdienste veranstaltet werden, sehe ich nicht, warum es nicht auch Räume zum Beten für muslimische Schüler geben soll. Wer Religion aus der Schule verbannen will, der unterstützt letztlich religiöse Privatschulen. Denn den Rechtsanspruch zu deren Einrichtung enthält das Grundgesetz nun ganz ausdrücklich.
Auch an staatlichen Schulen sind die Klassen religiös immer heterogener. Ist da ein bekenntnisorientierter Religionsunterricht die zeitgemäße Antwort?
Historisch war das ein Kompromiss: Die Kirchen akzeptieren das staatliche Erziehungsrecht, behalten aber einen wichtigen Platz durch den Religionsunterricht – auch als Begrenzung des staatlichen Erziehungsanspruchs. Das ist in der heutigen pluralisierten Gesellschaft viel komplizierter. Die Idee dahinter ist aber nach wie vor interessant: In der staatlichen Schule mit ihrem starken Erziehungsmandat wird anerkannt, dass den Menschen auch Prägungen und Überzeugungen bestimmen, über die wir als Gemeinschaft nicht einfach demokratisch verfügen können.
Das ist gewissermaßen auf die Schule heruntergebrochen das berühmte Diktum des Staatsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde. „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“
Das respektieren wir, indem wir die Religion in der Schule nicht staatlich zuteilen oder beurteilen. Das sichert im Grundsatz einen Raum spezifischer Freiheitlichkeit in der Schule, mit all den Anstrengungen, die damit verbunden sind. Und daher nehmen wir in NRW den islamischen Schulunterricht hinzu. Andere Bundesländer versuchen es mit gemeinsamem Unterricht, den mehrere Religionsgemeinschaften organisieren.
Das ist aber sehr anspruchsvoll, Kindern zu vermitteln: Du kannst jenes glauben, aber auch etwas anderes. Wie sollen Eltern damit umgehen, denen das Bekenntnis ihrer Kinder wichtig ist?
Aus pädagogischer Sicht dürften die Unterschiede in der Praxis nicht riesengroß sein. Die Aufteilung der Klassen in mehrere Glaubensgruppen ist oft organisatorisch ohnehin nicht möglich, und die Hälfte ist dann noch gar nicht versorgt. Eine Grundschullehrerin wird immer alle Kinder ihrer Klasse integrieren wollen, und nicht nur die Rechtgläubigen, die ihrer eigenen Konfession angehören. Es geht so oder so im Unterricht immer ganz wesentlich um die Anerkennung von Verschiedenheit. Dass das in Bezug auf Glaubenswahrheiten hoch anspruchsvoll ist, ist unbestritten. Aber es wäre eine Verflachung, wenn der Staat Religion nur auf Informationsbasis darstellen würde.
Angesichts der schwindenden Bindung zu den Kirchen: Ist die staatliche Erhebung von Kirchensteuern noch zeitgemäß?
Es ist zunächst einmal zweifellos ein effizientes Modell, weil es Geldflüsse sicherstellt und unterschiedliche finanzielle Leistungsfähigkeit abbildet, anders als in der Regel etwa Vereinsbeiträge. Das Modell ist ja auch nur ein Angebot des Staates, dass er an die Religionsgemeinschaften macht, und ihnen dafür auch seine Kosten in Rechnung stellt, und zu dem die Menschen jedenfalls nicht gezwungen werden – dieser Steuer kann ich mich durch Austritt entziehen.
Wie steht es um die Feiertage? Wann wir zur Schule gehen, arbeiten oder die Geschäfte öffnen, wird im Wesentlichen noch durch den christlichen Kalender bestimmt. Brauchen wir da – in Schule wie in der Wirtschaft – heute nicht weitergehende Freiheiten?
Der Sonntagsschutz dient ja nach dem Grundgesetz allgemein „der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung“, auch hier ist die Verfassung offener formuliert, als man vielleicht vermutet. Die christlich geprägte Jahrestaktung genießt, soweit ich sehe, religionsübergreifend eine hohe Akzeptanz. Wir sollten die Frage, welche Schonräume wir uns gegenseitig zugestehen und ob wir dafür einen gemeinsamen Rhythmus benötigen, als gesellschaftliche Frage begreifen und beantworten.
Ansonsten haben wir weitgehend eine Trennung von Kirche und Staat. Immer wieder aber wird, zumal in Bayern, allerdings über Kreuze und religiöse Symbole in Amtsstuben diskutiert, beziehungsweise diese vorgeschrieben.
Die staatliche Neutralität ist ein extrem wichtiges Ausgleichsmoment zur starken Stellung der Religionsfreiheit. Weil in einer pluralen Gesellschaft religiöse Menschen und nicht religiöse Menschen zusammenleben, muss unser gemeinsamer Staat religiös neutral sein. Das ist er auch. Deswegen sind religiöse Symbole im hoheitlichen Bereich aus der Zeit gefallen. Sie schaffen eine falsche Asymmetrie des „die und wir“. Und die Kirchen selbst beklagen, dass sie das für eine Banalisierung des christlichen Symbols des Kreuzes halten.
Können wir es gleichzeitig zulassen, dass Menschen mit religiösen Überzeugungen, die sie beispielsweise durch Kleidung wie dem Kopftuch Ausdruck verleihen, dennoch Staatsämter innehaben?
Ich würde die Frage gerne umdrehen: Was genau wäre falsch daran, wenn eine Staatsanwältin oder eine Richterin ein Kopftuch tragen könnte? Ganz selbstverständlich nehmen etwa Richter an Obergerichten hohe Ehrenämter in christlichen Kirchen wahr, das ist auch richtig so – niemand könnte sie zurückweisen, nur weil sie offensichtlich Christen sind. Und wir haben auch kein Störgefühl, wenn wir in England durch einen Polizisten kontrolliert werden, der durch seinen Turban als Sikh kenntlich ist. Wichtig ist doch, was im Kopf ist. Wenn muslimische Frauen bei uns Abitur und Studium absolviert, ist das doch eine wichtige Emanzipationsgeschichte – wir sollten sie nicht mit einem Berufsverbot beenden.
Mehr aus unserer Serie zum Geburtstag des Grundgesetzes
- Teil 1: In guter Verfassung? Wie das Grundgesetz entstand – und wo
- Teil 2: Ein Morgen in Düsseldorf: Nicole sucht nach Pfand in 200 Mülleimern
- Teil 3: Alleinerziehende: Warum es Mütter schwerer haben als Väter
- Teil 4: Verfassungsschützer will die Vorratsdatenspeicherung
- Teil 5: Grundgesetz: Homosexuelle sind noch immer ohne Anerkennung
- Teil 6: Eigentum verpflichtet: „Wir haben massive Probleme mit Geld“