An Rhein und Ruhr. Die Verfassung listet Opfer von Diskriminierung auf und verbietet deren Benachteiligung. Warum Homosexualität bis heute nicht thematisiert wird.

Das Grundgesetz gewährleistet in Artikel 3 die Gleichberechtigung aller Menschen. Jedoch wurde im Jahr 1949 in diesen Artikel gleich noch ein dritter Absatz eingefügt, der konkret die Diskriminierung aufgrund von Herkunft, Geschlecht oder Überzeugungen verbietet. Offenbar fehlte den Müttern und Vätern unserer Verfassung nur vier Jahre nach dem Ende der Nazi-Diktatur noch das Vertrauen in die Weltoffenheit ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürger. Nicht aufgeführt in dieser Auflistung ist aber noch immer die sexuelle Orientierung. Homosexuellen und queeren Menschen fehlt somit die Anerkennung des Grundgesetzes. Ein Umstand, den der Lesben- und Schwulenverband (LSVD) NRW so nicht stehen lassen will.

Bis 1994 war männliche Homosexualität faktisch verboten

„Warum wir nicht schon 1949 im Grundgesetz genannt wurden, ist klar“, sagt Frank Bauer, Vorstandsmitglied des LSVD NRW. „Homosexualität unter Männern war bis Ende der Sechzigerjahre strafbar. Und wenn man Homosexualität sagte, dann meinte man immer männliche Homosexualität. Es gibt heute noch nicht wenige Leute, die ‚Homosexuelle‘ sagen und Männer meinen.“

Paragraf 175 StGB

Bei der Gründung der Bundesrepublik 1949 wurde der Paragraf 175 in seiner Fassung aus der NS-Zeit von 1935 übernommen. Darin hieß es: „Ein Mann, der mit einem anderen Mann Unzucht treibt oder sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen läßt, wird mit Gefängnis bestraft.“ Auch die DDR übernahm das Verbot in verändertem Wortlaut.

Im Osten wurde der einvernehmliche Sex zwischen erwachsenen Männern 1958 faktisch straffrei und das Verbot 1988 abgeschafft. Im Westen folgte die Straffreiheit 1969. Nach der Wiedervereinigung wurde der Paragraf 175 1994 dann aus dem Strafgesetzbuch gestrichen.

Das habe sich auch daran gezeigt, dass sich nach Paragraf 175 des Strafgesetzbuchs nur Männer strafbar machen konnten. 1969 wurde der Paragraf abgemildert und 1994 endgültig gestrichen.

Im Zuge der kleinen Verfassungsreform 1994 wurden Menschen mit Behinderung in das Grundgesetz aufgenommen. „Da gab es auch die Bestrebung, Homosexuelle in der Verfassung als Opfergruppe zu verankern. Das hat die CDU mit ihrer Stimmenmehrheit aber verhindert“, bedauert Bauer.

Frank Bauer, Mitglied des Vorstandes des Lesben- und Schwulenverbandes NRW
Frank Bauer, Mitglied des Vorstandes des Lesben- und Schwulenverbandes NRW © Privat | Privat

Auch 80 Jahre nach Ende der NS-Diktatur keine Anerkennung in der Verfassung

Dabei wundert sich Bauer über die Existenz von Artikel 3, Absatz 3: „Es werden ausdrücklich die Opfergruppen aufgelistet. Obwohl durch Artikel 1 eigentlich alles gesagt ist: ‚Die Würde des Menschen ist unantastbar‘. Aber was bedeutet ‚Würde‘, wenn man 30 Jahre nach der letzten Reform den Eindruck gewinnt, dass es nicht wichtig ist?“, fragt der Verbandsvorstand. „Wie nachrangig muss man als Mensch sein, um nach 75 Jahren die einzige Opfergruppe zu sein, um die noch gerungen wird?“

Eine Änderung des Grundgesetzes brauche zwar lange. „Aber für uns ist das wichtig. Denn jedes normale Gesetz kann man mit einfacher Mehrheit ändern. Das Grundgesetz ist nicht so leicht zu ändern. Man hätte ein besseres Gefühl, wenn man in den Grundfesten des Staates mitverankert wäre“, betont Bauer und erinnert an die Verfolgung der Homosexuellen im Nationalsozialismus.

„Man war wie die anderen Opfergruppen der Willkür dieses Terrorstaates ausgesetzt. Und es ist die letzte Opfergruppe, die 80 Jahre nach dem Ende der Nazi-Herrschaft nicht anerkannt ist.“

LSVD NRW: Fenster für Grundgesetzänderung schließt sich

Frank Bauer hat den Eindruck, dass sich niemand in den Regierungsfraktionen der Angelegenheit annehmen wolle. „Und das macht mein Herz schwer“, sagt er. „Jetzt haben wir immerhin eine Koalition, die sich das in den Koalitionsvertrag geschrieben hat. Die Regierung hat allerdings mit mehreren Krisen zu kämpfen.“ Nun laufe man wieder Gefahr im Weltgeschehen übersehen zu werden.

Der LSVD mache seit Monaten Druck und werbe für die Verfassungsänderung, berichtet Bauer. „Wir befürchten, dass sich das Zeitfenster für die Änderung schließt. Denn nach dem Bundestag müsste auch der Bundesrat zustimmen. Und vielleicht ist das nach den Landtagswahlen in den östlichen Bundesländern nicht mehr möglich“, befürchtet er.

Der LSVD

Der Lesben- und Schwulenverband (LSV) wurde 1990 in Leipzig gegründet. Sei März dieses Jahres heißt der Verband „LSVD+ - Verband Queere Vielfalt“. Mit der Namensänderung sollen alle queeren Menschen miteingeschlossen werden. Der NRW-Landesverband hat seinen Sitz in Köln.

Dabei gehe es nur darum, „das zu haben, was alle anderen auch haben“, wie Bauer erklärt. „Wir nehmen ja niemandem was weg. Die Aufnahme in Artikel 3 ist eminent“, bekräftigt er. „Wenn jemand sagt: ‚Die haben doch schon alles‘, muss ich widersprechen. Wir haben wir nicht die Anerkennung des Grundgesetzes.“

Die gleichen Rechte, die alle anderen auch haben

Zwar geht er nicht davon aus, dass es keine Anfeindungen auf der Straße mehr gäbe, räumt Bauer ein. „Ich glaube kaum, dass sich jemand, der mir Schläge androht, weil ich vielleicht schwul aussehe, davon beeindrucken lässt, wenn ich sage: ‚Achtung, ich stehe im Grundgesetz‘. Aber in den Köpfen von Entscheidern könnte verankert werden, dass diese Gruppe durch das Grundgesetz geschützt ist und dass man mit einem geschärften Blick Entscheidungen trifft.“

Am Ende gehe es um Emotionalität. „Für uns, in unseren Herzen, würde es viel ändern. Es wäre die Genugtuung, endlich anerkannt zu werden. Dieses Gefühl zu haben, dass wir geschützt sind“, sagt Bauer. So sei es mit der Ehe für alle auch gewesen. „Faktisch war die Lebenspartnerschaft zum größten Teil auch eine Ehe. Ich habe meinen Partner trotzdem geheiratet. Es ist das Gefühl, das zu haben, was alle anderen Menschen auch haben.“