Bonn. Es war fünf vor 12. Genauer: Vor Mitternacht am 8. Mai 1945, als 61 Männer und vier Frauen in einer Hochschulaula das Grundgesetz beschlossen.
Es ist ja alles in der Wirklichkeit immer viel kleiner als im historischen Gedächtnis. Bonn und diese ganzen historischen Orte. Die Geschichte der Anfänge der Bundesrepublik heute vor 75 Jahren. Damals, als kurz vor Mitternacht Konrad Adenauer als Vorsitzender des Parlamentarischen Rates zur Abstimmung bat über das Grundgesetz. Auf den Tag genau fünf Jahre nach der Kapitulation, soviel historisches Bewusstsein musste sein.
Vom Haus der Geschichte, dem Museum der Bundesrepublik an der Willy-Brandt-Allee, ist es nur ein gut fünfminütiger Fußweg dorthin, wo der Kreißsaal des Grundgesetzes steht: Ein Hochschulgebäude, das später Tagungsort des Bundesrates wurde. Für viele Jahrzehnte, bis zum Umzug der Regierung nach Berlin 1991. Heute ist es eine Gruppe des Rotary-Clubs Kempen-Krefeld, die sich den Geburtsort der Republik zeigen lassen.
Abgestimmt haben die 61 Väter und vier Mütter des Grundgesetzes damals in dieser – Verzeihung – etwas besseren Schulaula mit heute ziemlich abgewetzten grauen Stoffen an den Wänden. Einst, in den 30er Jahren, gebaut für die Pädagogische Akademie Bonn zur Lehrerausbildung. Inmitten von Schrebergärten und einer Rollschuhbahn, gut drei Kilometer südlich der Bonner Altstadt. Im Bauhaus-Stil, jener neuen Sachlichkeit, in der NS-Zeit verpönt, aber jetzt gut passend zum nüchternen Neuanfang eines in Trümmern liegenden Landes.
Das ist das Haus der Geschichte NRW
Das Haus der Geschichte NRW ist nicht zu verwechseln mit dem Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland mit Sitz in Bonn. Die dahinterstehende Stiftung ist noch recht jung – gegründet per Gesetzesbeschluss des Landtags vom Dezember 2019. Ihr Auftrag ist es, „die Geschichte des Landes Nordrhein-Westfalen, seine Entstehung und Entwicklung darzustellen und anschaulich werden zu lassen“.An historischem Ort in Düsseldorf soll ein modernes, zeitgeschichtliches Museum entstehen: im „Behrensbau“, dem von Peter Behrens 1910 geplanten ehemaligen Verwaltungsgebäude der Mannesmannröhren-Werke AG und ersten Dienstsitz der NRW-Ministerpräsidenten bis 1953. Bis zur Eröffnung der Dauerausstellung in Düsseldorf sind noch weitere Ausstellungsformate geplant; unter anderem ist das „Museum Mobil“ ab März 2024 weiter auf Tour durch NRW.
Besser gesagt: der Länder. Der Bund, die Republik, sie musste ja erst erfunden werden. Der Arbeitsauftrag kam von den Alliierten. „Die Verfassungsgebende Versammlung wird eine demokratische Verfassung ausarbeiten, die für die beteiligten Länder eine Regierungsform des föderalistischen Typs schafft, die am besten geeignet ist, die gegenwärtig zerrissene deutsche Einheit schliesslich wieder herzustellen (…) und Garantien der individuellen Rechte und Freiheiten enthält.“
Anweisung an die „Eingeborenen von Trizonesien“
So lautet die „Anweisung Nummer 1“ der drei Alliierten Hochkommissare der USA, Großbritanniens und Frankreichs vom Juli 1948. Unter Glas ist sie im Vorraum der Aula zu lesen. Klar war damit auch bereits: die „Eingeborenen von Trizonesien“, also die Menschen in den Besatzungszonen der USA, Großbritanniens und Frankreichs sollten ihre eigenen Regeln aufstellen. Seit der Einführung der D-Mark im Juni 1948 bahnte sich die Trennung zur Sowjetzone bereits an: Die UdSSR hatte die Einführung der neuen Währung mit der Blockade der Transportwege nach Westberlin beantwortet.
Im Saal selbst steht noch immer das Mobiliar des Bundesrates. Noch kurz vor dem Berlin-Umzug hat man die Wappen an der Längsseite um die fünf neuen Bundesländer ersetzt. Die Glasfront, die einst wohl den Blick über Schrebergärten hinweg zum Rhein freigab und an der sich neugierige Fast-Republikaner 1945 die Nasen an den Scheiben plattdrückten, sie ist durch eine Tribüne etwas verbaut. Wer sich heute ans Rednerpult stellt, blickt über den Bundestagsneubau von 1992, an dem das blaue Signet der Vereinten Nationen prangt. Dahinter ein Hochhaus mit dem DHL-Logo. Bonns neue Gegenwart: Zweitgrößter UN-Standort nach New York und Zentrale diverser Post-Töchter.
Vor 75 Jahren tagte man noch mit Blick auf die Stirnseite, der Bundestag hat für seine Zwecke die Sitzanordnung um 90 Grad gedreht. Es war ein hartes Ringen seinerzeit. Um die richtigen Formulierungen, um die Frage, welche Rechte der Zentralregierung und welche den Bundesländern zukommen sollten.
Gleichberechtigung? Also bitte!
Und ob man wirklich allen Ernstes ins Grundgesetz schreiben sollte, dass Frauen und Männer gleichberechtigt sind. Ein Zeitungskarikaturist kritzelte damals ein Schwarzwälder Wetterhäusle und schrieb darunter „Entweder beide rein oder beide raus…!“ Und meinte vermutlich: Also, soweit kommt’s noch. Kam es auch – weitgehend. Auch wenn dort eine Zeitungsseite mal locker unter den „65 Vätern der Verfassung“ auch die vier Mütter, drei davon übrigens aus NRW, subsummierte – die Hebammen im Kreißsaal des Grundgesetzes.
Begonnen hatte das Ringen um eine gute Verfassung einen guten halben Kilometer weiter nördlich. Im Museum Koenig, damals wie heute ein Naturkundemuseum mit einem schönen Lichthof. Dort hatten sich Mütter und Väter am 1. September 1948 versammelt unter den argwöhnischen Blicken einer ausgestopften Giraffe, die dort noch immer steht. Die anderen Präparate hatte man weitgehend beiseite geräumt.
Dennoch fühlte sich SPD-Parlamentarier Carlo Schmid nicht nur von den Hohen Tieren der Alliierten argwöhnisch beäugt: „Unter den Bären und Schimpansen, Gorillas und anderen Exemplaren kamen wir uns etwas verloren vor.“ Ob er damit nur die ausgestopften Exponate oder womöglich auch die Hohen Tiere der Alliierten Kontrollkommission meinte, ist nicht klar.
Eine Verfassung war nicht gewollt – eigentlich
„Wer hat den Parlamentarischen Rat denn gewählt?“, fragt ein Herr aus Kempen. Nun, sie wurden ausgewählt, von den Landesregierungen. Richtig wählen, so wie heute den Bundestag, das ging nicht. Das Wahlverfahren und die Gremien mussten ja erst erfunden und in die Verfassung geschrieben werden. So wie die Grundrechte und Bundesrat, Vermittlungsausschuss, Bundestag und Verfassungsgericht. Dass komischerweise gar nicht Grundgesetzgericht heißt. Obwohl damals die Mütter und Väter ja bewusst keine Verfassung schaffen wollten.
Das Land, das noch nicht erfunden war, war ihnen zu klein: Ein neuer Staat ohne die Länder im Osten? Das war für die 65 Parlamentarische Räte schwer zu schlucken. Unter anderem Essens erster Nachkriegs-Oberbürgermeister, der KPD-Politiker Heinz Renner, stimmte daher gegen das Grundgesetz. Ebenso wie unter anderem die Abgeordneten aus Bayern, die vom neuen Zentralstaat eine zu starke Einmischung in bayerische Angelegenheiten fürchteten. Fünf Minuten vor Mitternacht stimmte dann per Zuruf der Parlamentarische Rat ab. Mit 53 zu 12 Stimmen wurde das Grundgesetz angenommen. Eine schwere Geburt, das Grundgesetz. Gedacht als Provisorium, lebt es noch immer.