Düsseldorf. Immer mehr ältere Menschen beziehen Grundsicherung. Nicole* ist eine von ihnen. Um über die Runden zu kommen, sammelt sie Flaschen. Wir haben sie begleitet.
Nicole leuchtet mit ihrer Taschenlampe in einen der Mülleimer in der Schadowstraße. Der Morgen dämmert. Ein Entenpaar watschelt über das Pflaster der Fußgängerzone. An einem Baum liegt Erbrochenes. Vor dem C&A liegen fünf Gestalten, die Gesichter verborgen in Schlafsäcken. „Das sind die Pflastermaler“, sagt Nicole. Im Mülleimer ist nichts Wertvolles. Sie packt ihren Karren, eilt weiter auf ihrem jahrelang einstudierten Weg. Die Pfandflaschen, die sie schon gefunden hat, klirren leise.
Artikel 1 Grundgesetz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“
Die Landeshauptstadt Düsseldorf an einem frühen Sonntagmorgen im Mai. Es ist 4.30 Uhr. Nicole wartet in ihrer Straße im Stadtteil Düsseltal. Eine bürgerlich anmutende Gegend an der Grenze zu Flingern. Nicole hat lange graue Haare, zum Zopf gebunden. Sie trägt eine gelbe Warnweste, Funktionshose, Handschuhe. Pfandflaschensammeln ist eine dreckige und siffige Angelegenheit. Sie hat sich bereit erklärt, uns mit auf ihre sonntägliche Tour zu nehmen, ihren richtigen Namen möchte sie nicht preisgeben.
Der Rücken ist kaputt, sie bezieht Grundsicherung
Die 63-Jährige hat bei der Post gearbeitet, hat einen Sohn alleine großgezogen. Jetzt ist ihr Rücken kaputt. Sie lebt von der Grundsicherung, fast 530 Euro im Monat. „Zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig“, sagt sie, zumal sie mit einem Teil des Geldes für ihre Miete aufkommen muss. Würde sie nicht zuschießen, müsste sie aus der Wohnung ausziehen, in der sie seit drei Jahrzehnten lebt. „Da bin ich verwurzelt. Das ist mein Zuhause. Da will ich nicht raus.“ Also hat sie vor zehn Jahren angefangen, Pfandgut aus dem Müll zu klauben.
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Nicole zieht ihren Handkarren hinter sich her. Es ist ihr vierter, drei hat sie schon verschlissen. Die Route hat sie genau im Kopf. Etwa 200 Mülleimer wird sie auf der Tour durchsuchen. „Heute wird nicht so viel da sein“, ahnt sie. In der Nacht hat es geregnet. Regen vertreibt das Partyvolk von der Straße. Sie geht schnell, hastig. Am S-Bahnhof Wehrhahn durchsucht sie den Ausgabeschacht eines der Ticketautomaten, manchmal vergessen Leute Kleingeld darin. Manchmal findet sie auch Portemonnaies. „Die bringe ich zum Fundbüro.“ Ehrensache.
Immer mehr ältere Menschen sammeln Pfandflaschen
An einer Haltestelle findet Nicole gleich drei Wasserflaschen. Dreimal 15 Cent. Ordentlich. Die meisten Bierflaschen sind nur acht Cent wert, Dosen bringen 25 Cent. Eine Dose zerknüllt sie, auf der ist kein Pfand drauf. „Das machen wir für die anderen Sammler, damit die wissen, dass die nichts wert ist.“ Sie sagt, sie kennt manche der anderen Sammler. „Manchmal grüßt man sich.“ Ihr ist aufgefallen, dass immer mehr ältere Leute unterwegs sind. Eine Beobachtung, die auch Horst Vöge gemacht hat, der Landesvorsitzende des Sozialverbandes VdK. „Das hat sich als Einkommensersatz verstärkt.“
Die Sonne geht allmählich auf, Vögel zwitschern gegen die lauter werdende Stadt an. „Wenn der Sonnenaufgang kommt, das ist so toll“, schwärmt Nicole. Drei Nachtschwärmer kommen ihr entgegen, sie wanken etwas. Angst hat sie nicht, wenn sie allein unterwegs ist, sagt sie. „Ich achte darauf, ob die krakeelen, dann gehe ich denen aus dem Weg. Früher war es schlimm, da gab es mehr Komasäufer.“ In den ganzen Jahren ist sie nur einmal tätlich angegangen worden.
Sie durchsucht die Mülleimer so selbstverständlich wie selbstbewusst. Ganz am Anfang hat sie sich überwinden müssen, weil sie die Blicke der Leute gespürt hat. Mal irritiert, mal angeekelt, mal fragend. Jetzt stört sie sich nicht mehr daran. Die meisten Begegnungen seien freundlich, gerade junge Leute sprächen sie manchmal an, gäben ihr Kleingeld. Am Hofgarten muss sie sich in die Büsche schlagen, für Frauen gibt es auf ihrer Tour keine öffentliche Toilette, das ärgert sie.
75 Jahre Grundgesetz
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Auf der Königsallee, der Düsseldorfer Prachtstraße, grüßt sie die Taxifahrer, die auf Kundschaft warten. Einer gibt ihr Leergut. Ein Kehrwagen der Awista fährt vorbei, der Fahrer winkt ihr zu. „Ich bin hier bekannt“, sagt Nicole und lacht. Sie läuft im Zickzack von einer Straßenseite zu anderen. „Das ist wie ein Tanz, oder?“ Sie lacht wieder. An einer Brücke findet sie eine Zigarettenschachtel, es sind noch einige Fluppen drin. Sie steckt sie ein. „Die sind für die Obdachlosen.“
Am Bolker Stern am Eingang der Düsseldorfer Altstadt sind die Spuren der Nacht noch deutlich zu sehen und zu riechen. Bierlachen trocknen auf dem Pflaster. Ein Mädchen kauert betrunken auf dem Boden, ein Begleiter ruft einen Krankenwagen. Junge Männer unterhalten sich lautstark mit heiseren Stimmen. Nicole zeigt auf eine Imbissbude: „Da hat mir der Besitzer mal Pizzen geschenkt, die habe ich eingefroren. Drei Tage Pizza. Das war gut.“ Sie hastet weiter.
Ob die Würde des Menschen unantastbar ist? „Die Ämtergänge, die sind entwürdigend“, sagt Nicole. Das Leben der Obdachlosen sei traurig. Aber das Sammeln von Pfandflaschen? „Das empfinde ich nicht als entwürdigend. Ich mache ja schließlich was.“ Wir verabschieden uns. Nicole zieht weiter. Sie hat noch drei Stunden vor sich. „Danach werfe ich die Klamotten in die Wäsche und nehme ein langes Bad.“ Das macht sie jeden Sonntag.