Düsseldorf. Seit 2022 leitet Jürgen Kayser die Landesbehörde. Im Interview erklärt er, wie Gefahren für die Demokratie im Auge behalten werden.
Ob Extremisten oder Spione, seit Gründung der Bundesrepublik gibt es Gefahren für unsere Demokratie und Verfassung. Das Grundgesetz wird daher auch vom Verfassungsschutz geschützt. In NRW leitet Jürgen Kayser seit Anfang 2022 die Behörde. Im Gespräch mit NRZ-Redakteur Tobias Kaluza spricht er darüber, wer das Grundgesetz bedroht und welche Herausforderungen das Internet für Verfassungsschützer birgt.
Wir haben eine Verfassung, in der alles steht, wir haben die Polizei, die für Straftaten zuständig ist – wofür brauchen wir eigentlich den Verfassungsschutz?
„Wir haben mit dem Grundgesetz eine sehr gute Verfassung. Aber wir wissen auch aus unserer Geschichte, dass Grundrechte nicht unabänderlich sind. Sie können außer Kraft gesetzt werden. Das haben die Väter des Grundgesetzes mitbedacht und haben Hürden eingezogen. Zum einen bei der Frage, wie man die Verfassung selbst ändern kann. Zum anderen haben sie mit dem Verfassungsschutz ein Frühwarnsystem eingerichtet, das darauf hinweist, wenn es Parteien, Personen oder Gruppen gibt, die diese Grundrechte außer Kraft setzen wollen oder es sich zum Ziel gesetzt haben, die Verfassung abzuschaffen.“
Wie machen Sie das? Was macht Ihre Behörde genau?
Der Verfassungsschutz besteht aus einer Vielzahl an Professionen und Menschen, die hier zusammenarbeiten, weil wir vielseitige Aufgaben haben. Wir arbeiten mit ausländischen Nachrichtendiensten zusammen und führen Observationen oder Telekommunikationsüberwachungen durch. Hier arbeiten Auswerter, die alle relevanten Informationen sichten und bewerten. Der Verfassungsschutz wirkt außerdem mit bei Überprüfungen nach dem Luftsicherheits- oder dem Waffengesetz und bietet zudem verschiedene Präventionsprogramme an. Für diese Aufgaben brauchen wir Menschen mit unterschiedlichen Qualifikationen. Dazu gehören Wissenschaftler – aus der Islam- und Politikwissenschaft, der Psychologie und Sozialpädagogik, der (IT-)Technik und nicht zuletzt Sprachkundige und Kommunikationswissenschaftler – sowie Polizei- und Verwaltungsbeamte.
Verfassungsschutzleiter Jürgen Kayser
Jürgen Kayser stammt aus Köln und arbeitete zunächst als Rechtsanwalt. 1997 trat er in den höheren Dienst der Polizei NRW ein und bekleidete von 2013 bis 2016 leitende Positionen beim Landeskriminalamt (LKA). 2020 wurde er Referatsleiter Staatsschutz beim Innenministerium und wurde dann beim Verfassungsschutz Leiter des Bereichs „Extremismus und Terrorismus“. Nachdem sein Vorgänger Burkhard Freier sich zur Ruhe setzte, übernahm er Ende Januar 2022 das Landesamt für Verfassungsschutz zunächst kommissarisch. Am 1. März wurde er auf Beschluss der Landesregierung fest in die Leitung berufen.
Wann dürfen Sie Überwachungen durchführen?
Wir können erst tätig werden, wenn wir hinreichend tatsächliche Anhaltspunkte dafür haben, dass eine Gruppe oder Person unsere Verfassung angreifen oder Grundrechte außer Kraft setzen möchte. Um das zu erkennen, dürfen wir uns erstmal nur öffentlich zugänglicher Quellen bedienen. Wir recherchieren im Internet, werten Printmedien und Soziale Medien aus. Erst wenn wir hinreichend tatsächliche Anhaltspunkte haben, liegt die rechtliche Voraussetzung vor, dass wir nachrichtendienstliche Mittel einsetzen dürfen. Darunter fallen Observationen, Telekommunikationsüberwachung oder der Einsatz von Quellen, wie Vertrauenspersonen, die uns sagen, was in dem Beobachtungsobjekt passiert. Untechnisch sprechen wir anfangs von einem „Prüffall“, über den wir öffentlich nicht berichten dürfen. Bei hinreichenden Anhaltspunkten ist es ein „Verdachtsfall“, über den wir berichten dürfen und die letzte Stufe ist eine „erwiesen extremistische Bestrebung“. Dafür muss sich der Verdacht komplett verdichtet haben.
Wer bedroht die Verfassung? Und wer ist am gefährlichsten?
Das hat sich in den vergangenen Jahren zum Nachteil unserer Demokratie verändert. Die Bedrohung für unsere Verfassung kommt aus allen extremistischen Richtungen. Schwerpunkte sehen wir aktuell beim Islamismus, Rechtsextremismus und bei der Einflussnahme durch ausländische Staaten. Beim Islamismus sehen wir die terroristische Gefahr durch radikalisierte Einzeltäter. Das sind vor allem junge Menschen, die sich im Internet selbst radikalisieren, durch Hassprediger beeinflusst werden und durch die Propaganda dschihadistischer Organisationen, sich damit auseinandersetzen, in Kriegsgebiete zu reisen oder in Deutschland Anschläge zu begehen.
Beim Rechtsextremismus ist die Bedrohung anders. Hier sehen wir die große Gefahr, dass der es wie keine andere extremistische Strömung schafft, Krisenthemen in der Gesellschaft aufzugreifen. Ob es die Energiekrise war, die Pandemie war oder aktuell die Kriegsangst oder die Angst vor Zuwanderung und Überfremdung. Der Rechtsextremismus greift das auf und versucht durch einfache Lösungen in die Mitte der Gesellschaft zu kommen und die Menschen anschlussfähig zu machen für rechtsextremistische Ideologien. Das ist eine Gefahr, die uns in der Breite Sorgen machen muss.
Wo enden denn die Befugnisse des Verfassungsschutzes?
Das ist im Verfassungsschutzgesetz geregelt. Darin steht, was wir unter welchen Voraussetzungen dürfen. Der Verfassungsschutz wird unter anderem von einem parlamentarischen Kontrollgremium kontrolliert. Darüber hinaus gibt es eine sogenannte „G-10-Kommission“, bei der wir alle Anträge zur Telekommunikationsüberwachung und den Einsatz von Finanzermittlungen genehmigen lassen müssen. In Zukunft wird nahezu jedes nachrichtendienstliche Mittel, das wir einsetzen wollen, einer externen Vorabkontrolle unterliegen. Das hat das Bundesverfassungsgericht im vergangenen Jahr entschieden und es muss in Nordrhein-Westfalen noch in ein Gesetz übertragen werden. Der Verfassungsschutz ist eine der am besten kontrollierten Behörden.
Was empfinden Sie persönlich als die größte Herausforderung für Ihre Behörde?
Den Extremismus im Internet zu beobachten und all die Informationen im Blick zu behalten. Denn das Internet ist gerade der Bereich, in dem Extremismus entsteht. Früher war das eine Szene-Kneipe, in der sich Rechtsextremisten getroffen haben. Linksextremisten hatten ihre Anlaufstellen und Islamisten haben sich in Moscheen getroffen. Heute entsteht der Extremismus im Internet. Das ist insbesondere eine Gefahr für Kinder und Jugendliche. Sie radikalisieren sich über ihr Handy, weil sie einfachen Zugang zu Videos bei YouTube oder TikTok oder zu Telegram-Kanälen haben, in denen zu Hass, Hetze und Gewalt aufgerufen wird. Und darüber hat quasi jeder die Radikalisierungsmaschine in der Hosentasche. Die Herausforderung ist, all diese Informationen und all diese Orte, wo Radikalisierung passieren kann, im Blick zu behalten. Denn das kann man mit menschlicher Beobachtung nur schwer erfassen. Dafür brauchen wir neue technische Ansätze.
Wird dafür KI zum Einsatz kommen?
KI ist für uns ein Thema. Aber dafür brauchen wir eine entsprechende Rechtsgrundlage, damit klar geregelt ist, wo die Möglichkeiten und wo die Grenzen von Künstlicher Intelligenz sind. Was wir nicht wollen, ist, dass die KI automatisiert festlegt, wer Extremist ist und wer nicht. Wir brauchen eine Grenze und einen menschlichen Auswerter, der finale Schlussfolgerungen zieht. Das muss gesetzlich geregelt werden, damit nicht die KI entscheidet, wer in Deutschland beobachtet wird und wer nicht.
Was muss sich außerdem verändern?
Wir brauchen weitere Befugnisse, um mit den Entwicklungen der Technik mithalten zu können. Dazu gehört die KI, aber vor allem brauchen wir Überwachungsmöglichkeiten für verschlüsselte Kommunikation im Internet und über Messengerdienste. Wir brauchen die Vorratsdatenspeicherung, um gespeicherte IP-Adressen bei Providern abrufen zu können, bzw. damit diese sie überhaupt speichern müssen. Wir brauchen einen Rechtsrahmen, der an die veränderte Zeit angepasst ist. Denn eine anlasslose und unkontrollierte Überwachung will niemand. Dafür müssen wir ein neues Verfassungsschutzgesetz erarbeiten.