NETZKULTUR: Spiel oder wirkliches Leben? Alternate Reality Gaming fasziniert weltweit User mit einem innovativen Konzept
Vier Uhr morgens. Mein Handy klingelt. Eine Frauenstimme meldet sich. Sie klingt erregt. "Hilf mir. Ich stecke in Schwierigkeiten, ich . . ." - dann bricht die Verbindung ab. Kurz darauf bekomme ich eine SMS "Call this number", gefolgt von einer britischen Telefonnummer. Ich rufe an. Am anderen Ende der Leitung erklingen zwei verschiedene Töne in scheinbar zufälliger Reihenfolge. Ein Binär-Code. . . . 01100011 . . . Entschlüsselt ergibt er eine E-Mail-Adresse: core@subject180287.net. "MeiGeist" beginnt . . .
Was geht hier vor? Ein Auszug aus dem neusten Dan-Brown-Roman? Nein, MeiGeist ist Realität, alternative Realität. Alternate Reality Gaming (kurz: ARG) heißt das neue Zauberwort, das Tausende User auf der ganzen Welt in seinen Bann zieht. Dahinter verbirgt sich ein innovatives Spielekonzept, bei dem die Grenzen zwischen Fiktion und realer Welt verschwimmen. Die Geschichten beginnen im Internet und verfolgen den Spieler über die Grenzen des Webs hinaus in seine Privatsphäre. Ungeschützt durch die Anonymität des Netzes, bekommt er persönliche Telefonanrufe, Briefe und Mails; er wird Teil des Spiels.
Wer sich jetzt an David Finchers Film "The Game" von 1997 erinnert fühlt, ist auf der richtigen Spur. Genau wie der von Michael Douglas gespielte Millionär Nicholas Van Orton übernimmt der Spieler keinen fiktiven Charakter, sondern spielt sich selbst. Im Gegensatz zum Film, in dem die Organisatoren des Spiels hohe Gebühren verlangen, ist die Teilnahme an ARGs jedoch kostenlos.
Die Spielemacher werden zunehmend von großen Firmen gesponsert, die das Konzept als virales Marketing für ihre Produkte einsetzen. Ob Nokia, Warner oder RTL - das Spielen in alternativen Realitäten hat sich als erfolgreiche Werbestrategie durchgesetzt. Zur Bewerbung der neuen CD von Enigma veranstaltete Virgin Music beispielsweise im vorigen Jahr das bisher größte deutschsprachige Alternate Reality Game: Ausgewählte Mitspieler bekamen per Post Traueranzeigen einer Unbekannten oder geheimnisvolle Kaleidoskope zugeschickt, die den Start eines zweimonatigen Rätselmarathons einläuteten, der in einem großen Live-Event endete.
Gewinner gibt es bei ARGs nicht, die Lösungen müssen gemeinsam gesucht und erarbeitet werden. In zahlreichen Foren werden die Probleme debattiert und die bisherigen Geschehnisse festgehalten. Dies ermöglicht auch einen schnellen Einstieg in bereits laufende Geschichten.
Da es im Gegensatz zu Online- Rollenspielen wie "World of Warcraft" oder "Second Life" keine Avatare oder Alter Egos in ARGs gibt, meldet sich jeder Spieler mit vollem Namen, Telefonnummer und Adresse an. Wie viele Details man dabei offenbaren möchte, bleibt jedem selbst überlassen.
Doch keine Angst, es lohnt sich - spätestens wenn das erste mysteriöse Paket ankommt oder der Schlaf durch nächtliche Hilferufe unterbrochen wird . . .
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