ONLINE-GAME: “World of Warcraft“, von den Insidern kurz WoW genannt, hat eine riesige Fan- und Spielergemeinde in der ganzen Welt. Für sie zählt vor allem das soziale Miteinander
Audurion stemmt sich gegen den Schneesturm, der über eine endlose, computergenerierte Eiswüste hinweg durch die Monitorboxen bis in Marcos Zimmer dringt. Marco (22) studiert Erziehungswissenschaften. Audurion, sein Zwergpaladin aus dem Spiel "World of Warcraft" (WoW, Welt der Kriegskunst), hat die 60. Erfahrungsstufe, die derzeit höchste, erreicht. Dazu haben Audurion und Marco zwei Monate gebraucht und bis zu zwölf Stunden täglich die virtuellen Reiche von Anvilmar bis Silithus durchkämmt. Haben Monster niedergestreckt, Rätsel gelöst, Erfahrungspunkte gesammelt, Waffen geschmiedet und eine eigene Gilde gegründet: eine Gruppe von Abenteurern, die gemeinsam die gefährlicheren Gebiete der WoW erforschen.
25 Abenteurer - Italiener, Spanier, Deutsche, Franzosen - zählt Marcos Gilde. Denn auf "Darkspear", dem Server, über den sich Marco in das Onlinespiel einloggt, über den aus dem sympathischen Studenten ein muskulöser, rotbärtiger Zwerg wird, treffen sich Spieler aus ganz Europa zum virtuellen Showdown. Europa, vor allem Deutschland, ist seit dem Erscheinungstag 11.2.2005 süchtig nach WoW. Als das Spiel in die Läden kam, wurden 290 000 Exemplare verkauft. Allein in Deutschland gingen in den ersten fünf Wochen etwa 200 000 Stück über die Tische. Inzwischen haben mehr als eine Million Europäer einen Account, weltweit über sieben Millionen Mitspieler.
Was bewegt täglich mehrere Zehntausend Menschen aus aller Welt dazu, sich nach den Hausaufgaben, der Arbeit oder zwischen den Vorlesungen als Ork, Troll, Gnom oder Nachtelf einzuloggen und monatlich etwa 15 Euro zu berappen? Der andauernde WoW-Hype lässt sich nicht nur damit erklären, dass der Bürohengst von nebenan online als Druidenmechaniker Rachegelüste an seinen Vorgesetzten auslebt. "WoW ist ein Paralelluniversum", sagt Marco, "es zählt das soziale Miteinander." Das definiert sich, wie im realen Leben, zunächst über Körpersprache und Humor.
Dazu stehen den Avataren, Spielfiguren wie Audurion, mehr als 30 Gefühlsausdrücke ("emotes") zur Verfügung. Der Avatar kann lachen, weinen, flirten, sogar tanzen. Nachtelfen tanzen zum Beispiel wie Michael Jackson zu Moonwalk-Zeiten, steppende Zwerge machen die kälteste Schneewüste zur Russendisco. Einige Spieler unterhalten sich beim Zocken per Headset in Echtzeit, was das Spielerlebnis noch steigert. Sogar Cybersex gibt es: Per "nude patch" stehen Elfinnen und Zwerge plötzlich ohne Rüstung da und verwandeln dunkle Dungeons in Online-Swinger-Clubs.
Zum sozialen Miteinander gehört auch, dass man seine Teamkollegen nicht im Stich lässt - das ist nicht so leicht: Es gibt keine Pausentaste, keine Rücksicht auf Anrufe, störende Mitbewohner oder menschliche Grundbedürfnisse - "positiver Gruppenzwang", nennt Marco das: weil man sich "in dringenden Fällen ja doch noch seufzend aus dem Spiel ausloggen kann". Doch damit ist man noch lange nicht raus aus Silithus. Denn die Welt der Kriegskunst reicht weit ins Alltagsleben hinein. So gibt es z. B. die "China-Farmer", die hauptberuflich spielen, um ihre Gegenstände und Avatare bei Ebay gegen echtes Geld zu verkaufen. Dieser neue Markt hat bereits ein Bruttoinlandsprodukt im Umfang einer kleinen Nation erreicht und unter Ökonomen neue Globalisierungstheorien losgetreten.
Auch in der Popkultur hinterlässt WoW Spuren: Im Netz kursieren Videos, Hörspiele und Comic-Serien, die den Alltag eines Helden im Warcraft-Universum liebevoll auf die Schippe nehmen. Die "South Park"-Macher Trey Parker und Matt Stone widmeten WoW unlängst eine eigene Episode. Hersteller Blizzard Entertainment bemüht sich indes, die WoW-Szene weiterhin bei Laune zu halten, veranstaltet etwa virtuelle Kostümwettbewerbe, bei denen Spieler ihren Avataren zu Halloween Gruselkostüme anlegen und iPods gewinnen können. Und im Januar geht die Spielerweiterung "The Burning Crusade" an den Start.
Neueinsteiger können sich das Spiel übrigens komplett vom WoW-Server herunterladen und zehn Tage lang kostenlos testen.