Hier speist die Kanzlerin, hier verhandeln Wirtschaftsbosse, und hier feiern TV- und Kinogrößen derzeit ihre private Berlinale: Das Borchardt in Berlin, dessen Ruf als “The Schnitzel Place“ bis nach Hollywood reicht, ist weit mehr als ein Restaurant - ein endloser Film, immer Comic, Drama, Komödie und Farce zugleich.

Berlin. Das Betreten eines unbekannten Restaurants erfordert Mut. Das erstmalige Eindringen ins Borchardt an der Französischen Straße in Mitte verlangt Tollkühnheit. Wem mag die edle schwarze Limousine gehören? Weil draußen keine Speisekarte hängt, verspürt der Novize spontane Verlustängste. Teuer? Gleich am Eingang wird der Mantel abgenommen. Die Panik wächst. Was wollen die? Und noch bevor man sich umgeschaut hat in der weitläufigen Halle, fragt Restaurant-Chefin Maria Sheridan (29) mit betörender Tücke: "Haben Sie reserviert?" Nein, äh, leider nicht. "Einen Moment bitte."

Im gleichen Augenblick marschiert ein Herr mit breitem Scheitel und Pilotenbrille vorbei, der mit einem fröhlichen "Hallo, Herr Aust", begrüßt wird. Der frühere "Spiegel"-Chef hat auch nicht reserviert. Aber ganz selbstverständlich steuert er auf einen Tisch im Säulengeviert zu, dem Centre Court. Heimspiel für einen, der im gesellschaftlichen Flachwasserhafen Hamburg siedelt. Wann immer Aust in der Hauptstadt zu tun hat, speist er im Borchardt, seit 15 Jahren praktisch wöchentlich, und derzeit besonders gern, weil ihm alle wegen der Oscar-Nominierung für den "Baader Meinhof Komplex" auf die Schulter klopfen, vor allem die, die zuvor bemäkelten, wie unterirdisch der Streifen sei. Aust war schon mit Hillary hier und mit Gerd, als man noch miteinander redete.

Im Borchardt ist immer große Welt. Und für manchen zu viel davon. Wortlos schnappen sich Erstbesucher bisweilen ihren Mantel und drehen noch an der Tür um. So viel Bedeutsamkeit muss man mögen.

Planet Borchardt, Futtertrog der Mächtigen, Wichtigen und derer, die sich dafür halten. Das Restaurant hat nur einen Kochlöffel im Michelin, rangiert also gastronomisch eher in der gehobenen Mittelklasse. Vom Unterhaltungswert her ist das Borchardt allerdings Weltklasse, vorwiegend lustig, mal aufgeblasen, oft spannend, bisweilen peinlich, immer umstritten; je nach Weltsicht Zoo, Eitelkeitsverdichtung, Symbol sozialer Ungerechtigkeit, eine permanente Show, kollektives Stillen des Bedeutungshungers.

Warum das Borchardt magisch anzieht? Es liege am Wiener Schnitzel, behauptet Schauspielerin Kate Blanchett, auch wenn sie es wahrscheinlich nie geschafft hat, ein ganzes zu verdrücken. "Die einzigartige Atmosphäre", erklärt Bernd Schiphorst, Aufsichtsratschef von Hertha BSC. "So etwas", sagt Aust, "gibt es nur einmal auf der Welt. Ich spare fünf Termine, weil ich alle hier treffe."

Stimmt. Thomas Gottschalk, Vicky Leandros, Otto Sander, Barbara Schöneberger, Wolfgang Joop, die Berben, die Ferres, Richard von Weizsäcker, Franziska von Almsick und bisweilen die Kanzlerin mit ihrem Gatten. Wenn Filmfestspiele sind, rückt auch die globale Glamour-Brigade an: Jack Nicholson, Robert de Niro, Russell Crowe, Antonio Banderas. "The Schnitzel Place" kennt man in Hollywood, auch deswegen, weil man durch den Hintereingang unauffällig im angrenzenden Hotel Regent verschwinden kann. Fluchtwege schätzt jeder Star. Jetzt, mit der Berlinale, ist es wieder so weit. Vielleicht schaut Leo DiCaprio mit 30 Mann Begleittross vorbei.

Theoretisch darf jeder rein. Aber praktisch funktioniert die Tür wie eine Schleuse, die auf gespenstische Weise jene, die mitspielen dürfen, vom Rest trennt, vollautomatisch, ohne festgeschriebene Regeln, ohne Security-Gorillas, meist ohne böses Wort. Abgerissen auszusehen, ist jedenfalls kein Ausschlusskriterium. Uwe Ochsenknecht isst ja auch da. Nicht mal Geld spielt eine große Rolle, denn für den Preis eines größeren Burger-Menüs gibt es ein Mittagessen. Deswegen kommen Investment-Banker noch, manche jedenfalls.

Die lückenlose Betreuung von der Tür bis zum Tisch gehört zu Borchardts Besonderheiten. Wer bekannt ist, darf sich einen Tisch wünschen, zum Beispiel außerhalb des Lärmradius von Udo Walz. Sensiblere Gelegenheitsgäste meinen Signale für Vorzugsbehandlung von Stammgästen zu erkennen. "Niemals", beteuert Maria, "wir freuen uns eben, wenn wir Gäste wiedersehen." Im Wechsel mit Rainer Möckel (52) und Sebastian Petruschka (35) aus Krakau wacht sie an der Garderobe, dass niemand einfach durchmarschiert, so wie gelegentlich ältere Damen mit Einkaufstüten. "Madame!", ruft Maria dann resolut und bugsiert die Irrläuferin zurück, um sie von Hut und Gepäck befreit zu Tisch zu bringen.

Die drei Wächter funktionieren nach völlig anderen Kriterien als der normale Bussi-Promi-Wirt. Sie müssen ihren Laden nicht vollkriegen. Im Borchardt gibt es nur gute oder sehr gute Tage. Die Chefs müssen die Fülle orchestrieren, sie sind Regisseure, konsensual und dauerhaft guter Laune, die die Darsteller platzieren für den großen, endlosen Borchardt-Film, immer Comic, Drama, Komödie, Farce zugleich.

In Millisekunden rattert ein komplexes Programm durch ihr Hirn: Wer ist das? Aktueller Kurs? Diskret oder zentral setzen? Wen mag er nicht, wer mag ihn nicht, wen kennt er? Hertha-Boss und Stammgast Bernd Schiphorst erfährt zum Beispiel schon am Eingang, dass Otto Rehhagel auch da ist. Gut auch zu wissen, dass RWE-Chef Jürgen Großmann und E.on-Boss Wulf Bernotat, die beiden Energie-Rivalen, vermutlich nicht in Horchweite sitzen wollen. Das ausdauernde Studium von "Gala", "Bunte", "Bild" ist Pflicht für die Chefs, "Manager Magazin" schadet auch nicht. Als Superhirn gilt Möckel, der jedem Gast sogar den favorisierten Digestif zuordnen kann. Ein Kandidat für "Wetten, dass..?".

Restaurantchef gehört, wie Bundeskanzler, zu den Berufen, die man nicht lernen kann. Möckel, Petruschka und Sheridan wirken, jeder auf seine Art, wie Turbinen, die einen unsichtbaren Stimmungserzeuger antreiben. Hart zu den Kellnern, heiter zu den Gästen, müssen sie Atmosphäre schaffen, jenen nicht quantifizierbaren Zustand des Wohlfühlens, eben den perfekten Abend.

Aber was ist das, der perfekte Abend? "Wenn alles homogen läuft wie eine Maschine", sagt Maria, "wenn Küche, Service, Gäste zu 100 Prozent ineinandergreifen, wenn man den Einzelnen gar nicht mehr wahrnimmt." Das alte sozialistische Ideal von der Auflösung des Individuums zum Wohle des großen Ganzen, ausgerechnet im Borchardt soll es Wirklichkeit werden.

Dabei war das Borchardt nie links oder rechts, sondern immer Kantine und konsensualer Treffpunkt aller Mächtigen. Seit 150 Jahren wird hier Weltpolitik gemacht, ob von den Preußen, zur Weimarer Zeit, von Nazis, DDR-Funktionären oder schließlich im geeinten Deutschland. In der Gaststube lagern unsicht-, aber spürbar alle Sedimentschichten deutscher Geschichte, vom Original bis zur Farce. Hier speisten gleich drei Stauffenbergs: der echte, Verballhorner Oliver Pocher und Tom Cruise, der den Widerstandskämpfer in "Operation Walküre" darstellt.

Der Filmverleih des Scientologen hatte am 19. Januar, am Abend vor der Filmpremiere, die ganze Gaststätte exklusiv gemietet, die Fenster wurden mal wieder mit Packpapier verhängt. Für den Gegenwert einer achtzylindrigen Limousine deutscher Bauart wurde ordentlich aufgefahren und gefeiert, gerade so, als wolle die Crew sich nicht nur erinnern an all die schönen Mahlzeiten während der Dreharbeiten, sondern auch noch mal den Hauch der Geschichte atmen. Das Borchardt fühlt sich eben historisch relevanter an als die Pizzeria um die Ecke.

Fungieren die Gäste als Gelegenheitsdarsteller, gehören die Kellner zur festen Besetzung. Romeo Vaubourg (37) zum Beispiel, den die Kollegen schätzen, weil er freiwillig und offenbar gern Besteck poliert, dann noch mal kontrolliert, die Polster checkt, jeden Platz militärisch eindeckt, mit Messer, Gabel, Serviette, Wasserglas. Weder Grünzeug noch Kleinkunst auf dem Tisch.

Theoretisch ist das Handwerk des Kellners schnell gelernt, Teller-Balancieren ist Trainingssache. Viele Berliner Servicekräfte beherrschen allerdings nicht mal das. Der Borchardt-Kellner ist in Gastro-Kreisen, was ein Nationalspieler bei Fußballern ist. Ein Star, mehr Entertainer als Handwerker, angeblich verwöhnt von märchenhaften Trinkgeldern. Fakt ist aber auch: Wer mit Kreditkarte bezahlt, gibt oft gar nichts, manche nur - stimmt so - ein paar Cent. Amerikaner dagegen spendieren auch mal 20 Prozent. Kleine Rechnung: Wenn 300 Gäste je zwei Euro geben, kassieren sechs Kellner im Schnitt je 100 Euro. Nicht schlecht, als Zubrot. Die Einnahmen schwanken allerdings, denn jeder arbeitet für die eigene Börse; beim Trinkgeld hören die Umverteilungsmodelle auf. Auf den Milliardär mit den Geldbündeln warten sie allerdings bis heute, vor allem in der Mittagsschicht, wenn die Schlipsträger quicklunchen. Die Spätschicht ist einträglicher, zugleich auch härter. Zur Berlinale geht es bis morgens um sechs.

Im Bekanntenkreis werden die Service-Leute häufig gedrängt, doch mal die süffigen Stories von entfesselten Promis zu erzählen. Da schweigen sie lieber. Geht doch keinen was an, wenn vier Sicherheitsleute eine gute Viertelstunde die Tür vom Herrenklo bewachen, wo sich morgens um drei ein stadtbekannter Politiker und ein Modemensch verbarrikadiert haben.

Und wie sind die Promis sonst so?

Ulf Klotz (35) und Linus Müller (25), beide hinter der Bar, grinsen. "Die Berühmten sind fast immer freundlich." Was sie nicht sagen: Die weniger Berühmten neigen sehr viel häufiger zum Pöbeln. Die Kellner müssen ertragen, wenn sich mürbe Psychen durch mieses Benehmen stützen. "Wer anfällig ist für Provokationen, der ist in dem Beruf generell falsch", sagt Müller. Sie ertragen es stoisch. Ist im Preis mit drin. Und auch egal. Morgen geht alles bei null wieder los.