“Effi Briest“ feiert heute auf der Berlinale Premiere und startet am 12. Februar in den deutschen Kinos. Julia Jentsch entspricht ganz dem Wunsch von Fontane: Sie bezaubert durch Natürlichkeit.

München. Dienstbeginn in einer Schwabinger Starbucks-Filiale. Ein junger Mann fragt das vielleicht 20-jährige Tresenmädchen, ob es in Ordnung sei, wenn er hier gleich ein Interview mit Kamera führe. "Mit wem denn?", fragt das Tresenmädchen misstrauisch. "Julia Jentsch", sagt der Mann. Eine ordentliche Antwort erhält er nicht, weil das Mädchen stattdessen einer Kollegin mit einem gezielten Fußtritt den Staubsauger gewissermaßen aushopst und in die plötzliche Stille ruft: "Weißt du, wer gleich kommt?!" - "Na", sagt die andere, und es ist nicht ganz ersichtlich, ob sie das Temperament der Jüngeren rügt oder sie zum Erzählen auffordert. "Julia Jentsch!", verkündet diese jedenfalls triumphierend und verzieht sich wieder hinter ihre Kasse.

Als Julia Jentsch eine gute halbe Stunde später tatsächlich in den Laden kommt, bemerkt sie keiner der Anwesenden.

Sie trägt einen dunklen Mantel, Jeans, am Aufschlag schon etwas abgelatscht, weiße Adidas-Turnschuhe, die offenen Haare fallen ihr ins Gesicht. Beim Bestellen spricht sie deutlich, aber leise. Als das Tresenmädchen sie - erst bei Herausgabe der Wechselmünzen - schließlich doch wahrnimmt, starrt es unverhohlen bedeutungsvoll die Kollegin an. Julia Jentsch lächelt. Sie hat es gemerkt. Natürlich. Sie kennt diese Blicke. Sie ist berühmt. Und dass man das nicht auf Anhieb bemerkt, gehört vermutlich zu ihren größten Qualitäten.

"Das Natürliche", schrieb Theodor Fontane einmal über die von ihm geschaffenen Frauenfiguren, "das Natürliche hat es mir seit langem angetan, ich lege nur darauf Wert, fühle mich nur dadurch angezogen." Die Besetzung der mittlerweile fünften deutschen Verfilmung seines wohl bedeutendsten, ganz sicher aber erfolgreichsten Romanstoffes "Effi Briest" dürfte Fontane also zweifellos gefallen. Nach Marianne Hoppe (1939), Ruth Leuwerik (1955), Angelica Domröse (1968) und zuletzt Hanna Schygulla (1974) spielt Julia Jentsch, die Undivenhafteste in dieser Reihe, die leidenschaftliche und ungestüme Effi, die an den gesellschaftlichen Konventionen ihrer Zeit zerbricht.

Dass ihre Effi von Beginn an vergrübelter, nicht gar so verspielt wirkt wie bei ihren Vorgängerinnen, im Grunde nicht einmal wie bei Fontane, und doch vor allem durch "das Natürliche" bezaubert, das liegt vor allem an Julia Jentsch. Nicht nur auf der Leinwand, auch im persönlichen Gespräch wirkt sie mit ihrem rundlichen Kindergesicht jünger, als die fast 31-Jährige tatsächlich ist. Ein wenig schüchtern und dabei auf eine ernsthafte, fast prüfende Art aufmerksam. Sie antwortet zögerlich, wischt, wenn es sein muss, einen Gedanken mit entschiedener Handbewegung beiseite, um neu zu formulieren.

Was von einer Figur bleibt, wenn sie - wie man am Theater so schmerzhaft nüchtern sagt - "abgespielt" ist, das hat sich Julia Jentsch in letzter Zeit häufig gefragt. "Eigentlich lasse ich meine Rollen relativ schnell hinter mir", sagt sie, und das "eigentlich" verrät schon, dass es ganz so einfach eben doch nicht sein kann. "Ich denke, mein Horizont erweitert sich. Ich erfahre eine Sensibilisierung für etwas, was auch möglich ist. Ich speichere sozusagen emotionales Wissen." Der Mensch Julia Jentsch fühlt die Erinnerungen der von ihr gespielten Figuren. Welch ein reizvoller, ungewöhnlicher Gedanke über die Schauspielerei.

Von der Effi, glaubt sie, wird ihr das "Widersprüchliche" bleiben. "Weil Widersprüchlichkeit ja auch Vielfalt bedeutet. Das kennt doch jeder: so ein Nebeneinander der Gefühle. Das verbinde ich ganz stark mit dieser Figur. Dass man nicht immer so klar sein kann - das aber gleichzeitig als etwas Schönes begreift."

Es ist ebendiese Fähigkeit, den Glanz des Moments sichtbar werden zu lassen, die Julia Jentsch auszeichnet und die sowohl Film- als auch Theaterregisseure veranlasst, ihr Charaktere anzuvertrauen, die aus der Ambivalenz aus zarter Unschuld und störrischem Kampfgeist leben. Wie die Widerständlerin Sophie Scholl, für die sie 2005 den Silbernen Bären der Berlinale gewann, wie die verschuldete Jule aus "Die fetten Jahre sind vorbei", für die es im selben Jahr den Bayerischen Filmpreis gab, wie die Kriemhild in Andreas Kriegenburgs "Nibelungen" an den Münchner Kammerspielen oder die Antigone oder die Lulu und jetzt die Effi - unterschiedliche Charaktere, die, wie Julia Jentsch sie spielt, alle etwas Aufrechtes teilen.

Dieses Klare, das sich so an keiner Schauspielschule lernen lässt und das sich, wenn man möchte, äußerlich auch an der hellen, fast durchsichtig wirkenden Haut und dem offenen Gesicht ablesen lässt, wird an einer Stelle in Hermine Huntgeburths Film besonders deutlich: Als Effi, deren Hochzeitsnacht mit dem deutlich älteren Geert von Instetten (Sebastian Koch) einer Vergewaltigung gleichkommt, nach ihrem ersten Orgasmus mit dem Geliebten Major Crampas "Noch mal!" sagt. Das ist - mitten in diesem Kostümfilm, der natürlich auch in den nordisch-rauen Dünenlandschaften schwelgt - so unkitschig, so unlüstern und so unschwül. Die vollkommene Glückseligkeit eines Kindes, das zum ersten Mal in seinem Leben Karussell gefahren ist, rührend in der unverstellten und geradlinigen Ehrlichkeit des Gefühls.

Wie leicht fällt es Julia Jentsch, glücklich zu sein? Sie lacht kurz auf und streicht sich dann langsam eine Haarsträhne hinter das linke Ohr. "Ich habe schon grüblerische Zeiten, aber dann muss nur etwas ganz Kleines passieren und ich kann sehr schnell glücklich sein. Ich empfinde allerdings manchmal rückblickend eine ganz andere Leichtigkeit als im eigentlichen Moment." Der Applaus des Publikums mache schon glücklich, "doch", sagt sie. Und macht wieder eine Pause. "Aber ich kann das nicht von der Vorstellung trennen. Wenn der Abend für mich nicht gut war, ist Applaus natürlich trotzdem schön. Aber nicht mehr entscheidend." Das klingt kein bisschen abgehoben, sondern grundsympathisch. Nach Bodenhaftung.

Auch in der Probenarbeit gehört Julia Jentsch zu denen, die sich schrittweise an eine Rolle herantasten. "Es gibt Kollegen, die erst einmal alles geben, alles rauslassen, laut, groß, das ganze Gefühl. Und der Regisseur darf dann reduzieren, das ist für den wahrscheinlich ziemlich angenehm. Ich bin eher vorsichtiger, langsamer. Erst wenn mir klarer wird, worum es geht, lasse ich das nach außen."

In einem Interview hat sie einmal gesagt: "Ich wünsche mir immer, in der Situation zu sein, mein Leben ändern zu können; es muss immer eine Fluchtmöglichkeit geben." Ein Satz, der so, in dem unverhohlenen Drang nach Freiheit, auch von Effi stammen könnte. Gilt er für Julia Jentsch auch heute noch? "Ach Gott, dieser Satz ist so lange her", sagt sie. Und lächelt. "Aber es stimmt schon. Man muss sich in diesem Beruf, vielleicht mehr als in anderen, immer wieder neu für etwas entscheiden. Bei jeder neuen Rolle geht es darum, neue Dinge auszuprobieren, noch mutiger zu werden. Die Möglichkeit ist schon auch eine Form von Freiheit." Darum gehe es ihr auch bei der Entscheidung für eine Rolle wie die der Effi: "Ich interessiere mich dafür, wie Menschen Entscheidungen treffen, wie sie empfinden, welche Risiken sie eingehen. Wie sie so ihr Leben leben."

Vielleicht wirkt Julia Jentsch auch deshalb manchmal so staunend, wenn sie über den roten Teppich geht, wie sie es heute auf der Berlinale-Premiere der "Effi Briest" wieder tun wird. Lächelnd. Freundlich. Ein wenig schüchtern. Und fast verblüfft über den Verlauf des eigenen Lebens, darüber, wie man ihr begegnet. Sich dieser herrlichen Besonderheit durchaus bewusst, aber vielleicht gleichzeitig auch der Absurdität des Moments.