Hagen. Hagener Kaltwalzunternehmen Bilstein erfindet innovative Stahlfaser, die Bauen mit Beton umweltfreundlicher und billiger macht.
Sie sehen auf den ersten Blick aus wie Haarnadeln: sechs Zentimeter lang, nicht einmal einen Millimeter breit, aus Bandstahl geschnitten. „Stabils“ heißt ein neues Produkt der Hagener Bilstein Group, das Bauen mit Beton umweltfreundlicher und zugleich kostengünstiger machen soll. „Beton ist hoch druckfest, aber wenig zugfest“, sagt Jörg von Prondzinski, Geschäftsführer des neuen Tochterunternehmens Bilstein Steel Fiber.
Große Tunnelprojekte in Norwegen und Österreich
Wenn von Beton in Bauten die Rede ist, sei meistens Stahlbeton gemeint, erklärt von Prondzinski. In Fundamente wird Stahl in Mattenform gelegt, bei Mauern sind es oft Stahlstäbe, die als sogenannte Bewehrung eingebracht werden. Viele Brücken in den 60er- und 70er-Jahren sind mit Stahlbeton gebaut worden. Das ist speziell in der Region um die Autobahn 45 mittlerweile leidlich bekannt.
Die neuen Stabils-Stahlfasern sollen Verwendung beim Bau von Betontreppen, Balkonen, Kleinbauwerken wie Garagen oder Trafohäuschen bis hin zu Rohren, Schächten und Tunnelbauten finden – und dort, wo es besonders schwierig wird. Mit dem Hagener Material sei bereits erfolgreich ein Parkdeck am Matterhorn gegossen worden.
„Der Einsatz von Stahlfasern im Brückenbau müsste im Einzelfall genehmigt werden.“
Für die Hagener ist die Baubranche ein neues, vielversprechendes Feld. Die Bilstein Group ist einer der weltweit größten Hersteller von kaltgewalztem Bandstahl. Die Produkte, die die Werke in Hagen verlassen, werden bislang vor allem für die Autoindustrie, aber auch für Medizintechnik und die Sägeindustrie gefertigt.
Mittelständische Auto-Zuliefererindustrie auf neuen Wegen
Rund 70 Prozent der Produkte werden in der Autoindustrie weiterverwendet – vom Gurthalter bis zu Motorenteilen. Die Krise in dieser Branche begann bereits vor rund fünf Jahren und trifft die mittelständische Zuliefererindustrie in Südwestfalen besonders. Bilstein ist nicht das einzige Unternehmen, das auf die hohe Abhängigkeit von der Autobranche mit Blick auf ein mögliches „Aus“ des Verbrenner-Motors reagieren will.
Erfinderisch waren und sind die vielen kleineren und mittelgroßen Firmen in der Region seit jeher. Und Not, wie die Absatzkrise im Automobilbereich, treibt idealerweise Innovation voran. Die Idee zur Produktion der „Stabils“ ist bereits einige Jahre alt. Zu diesem Zeitpunkt herrschte noch ein Bauboom. Entsprechend hoch waren in Hagen die Erwartungen an das neue Produkt. „Start des Projekts war 2021. Wir haben viel Erfahrung mit dem Einwalzen von Strukturen in hochfeste Stähle“, sagt Jörg von Prondzinski. Die besondere Struktur in den Haarnadel großen Stahlfasern und besondere „Anker“ an den Enden der Fasern sind das, was Bilstein als „revolutionär“ bezeichnet.
Stahlfasern für Beton sind als Produkt nicht neu. Die Hagener haben aber ihr Know-how aus der Kaltwalztradition genutzt und eine Faser entwickelt, die Prondzinski zufolge mehr könne als die Mitbewerber am Markt. Faserbeton mit Hagener Stabils könne besonders gut verarbeitet werden, weil die Ankerkonstruktion an den Faserenden und die Formgebung insgesamt eine „Igelbildung“ verhindere, erklärt der Fachmann. Im Gegensatz zu Konkurrenzprodukten verteilen sich laut Bilstein die Fasern im Beton deutlich gleichmäßiger und sorgen so für höhere Stabilität. Das Ausmaß der Innovation lässt sich nur bei genauestem Betrachten erahnen, am besten unter einem Mikroskop.
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Bauindustrie auf dem Weg zu mehr Nachhaltigkeit
Was die Stahlfasern für die Bauindustrie besonders interessant macht, ist der Umwelteffekt. Beton ist für das Bauen kaum verzichtbar. Andererseits hinterlässt das Material einen enorm großen CO2-Fußabdruck. Die Zementindustrie arbeitet zwar daran, diesen zu reduzieren. Bis zu deutlich klimaneutralerem Beton wird es aber noch Jahre dauern.
Langfristig will die Bilstein Group möglichst CO2-neutralen Stahl verwenden. Bereits heute habe das eingesetzte Material einen deutlich reduzierten CO2-Fußabdruck. Das aktuell Entscheidende sei aber, dass beim Bau deutlich weniger Beton bei gleichzeitig höherer Stabilität notwendig sei und die Verarbeitung schneller als mit konventionellem Stahlbeton funktioniere. Ein Beispiel: „Eine Betonwendeltreppe wird damit leichter, weil sie aufgrund der höheren Stabilität weniger dick sein muss. Das bedeutet, es ist sowohl weniger Beton als auch Stahl notwendig. So können aktuell bereits rund 25 Prozent CO2 gegenüber einer Vergleichstreppe eingespart werden“, sagt Jörg von Prondzinski.
Einsatz für Bau von Brücken offen
Inzwischen hat sich der Bauboom merklich abgekühlt. Den erhofften Senkrechtstart legte das neue Bilstein-Produkt zwar nicht hin, zufrieden mit dem Anlauf der Geschäfte ist man beim Mittelständler aber durchaus.
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Ein lange von Bilstein lediglich als Zwischenlager genutztes Gebäude und Stahlgelände in kurzer Reichweite zum Hauptwerk ist zur neuen Produktionsstätte umfunktioniert worden. Aktuell findet dort ein Zweischichtbetrieb statt. Rund 1000 Tonnen kaltgewalzter Präzisionsstahl aus den Werken der Gruppe werden von einem noch kleinen, sechsköpfigen Team um den erfahrenen Kaltwalzer Dirk Casutt verarbeitet. Bereits in diesem Monat werde auf Dreischichtbetrieb umgestellt, um ausreichend Stabils-Fasern für zwei große Tunnelprojekte zu produzieren. Eines in Norwegen, das andere in Österreich. „Mittelfristig planen wir, dass 10.000 Tonnen kaltgewalzter Bandstahl zu Fasern verarbeitet werden“, sagt der Geschäftsführer von Bilstein Steel Fiber, Jörg von Prondzinski.
Sind die Fasern womöglich eine Alternative für schnellen und verlässlichen Brückenbau, den die Region so dringend benötigt? Da bleibt von Prondzinski noch zurückhaltend: „Der Einsatz von Stahlfasern im Brückenbau müsste im Einzelfall genehmigt werden.“