Schwelm. Darf ich noch sagen, was ich denke? Eine Reise durch Südwestfalen zeigt: Die Menschen bewerten die Meinungsfreiheit unterschiedlich.

Es würde einem nicht schwerfallen zu glauben, dass die Einrichtung des kleinen Raums seit der Eröffnung vor vielen Jahrzehnten nicht verändert worden sein könnte. Diese paar Quadratmeter sind Empfang, Verkaufsraum und Büro gleichzeitig. Die Kanten des Schreibtisches sehen aus wie abgenagt, der Stuhl dahinter ist sichtbar durchgesessen, die Schreibtischunterlage verblasst.

Dieser Ort versprüht mit seiner Authentizität einen erstaunlichen Zauber. Es ist ein Ort aus der Mitte der Gesellschaft. Die Geschäfte eines Werkstattbetriebs aus dem Großraum Hagen werden hier abgewickelt. Familienbetrieb seit Generationen. Ein Laden, der aus der Zeit gefallen scheint. Als würden sich die Zeiger der Uhr an der Wand zwar unablässig drehen, doch damit dem Kalender keine Tage oder gar Jahre hinzufügen. Ein Ort, an dem die Jahre vorbeigezogen sein könnten, in denen diese Gesellschaft sich in Lager gespalten hat, die sich immer unversöhnlicher gegenüberstehen. 

Reise durch Südwestfalen: Zuhören und ausreden lassen

Kein schlechter Ort vielleicht, um eine Reise durch Südwestfalen zu beginnen, mit weiteren Stationen in Schwelm, Arnsberg, Meschede. Zufällige Begegnungen an Orten, wo Menschen sind. Diese Reise soll zum Auftakt der Aktion „Zuhören und ausreden lassen“ einen Eindruck darüber vermitteln, wie es bestellt ist um das Miteinander, um die Meinungsfreiheit. Leitfragen: Was bewegt die Menschen? Und haben sie das Gefühl, offen sagen zu können, was sie bewegt?

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Wir wollen reden. Und zwar mit Ihnen. Wir wollen Ihnen zuhören. Wir wollen Sie ausreden lassen. Wir wollen wissen, was Sie bewegt, welche Themen für Sie wichtig sind. Uns interessiert auch die Frage: Sind Sie der Meinung, dass man heute nicht mehr alles öffentlich sagen kann, was man möchte oder für wichtig erachtet? Und: Wir wollen auch gerne wissen, was Sie von uns halten, wie Sie unsere Arbeit als Medium sehen.

Kurzum: Wir wollen uns gerne bei Ihnen einladen! Nicht zu Kaffee und Kuchen, sondern zum Gespräch. Weil wir der festen Überzeugung sind, dass in Zeiten, in denen sich die Gesellschaft zu polarisieren scheint, in der ganze Gruppen nicht mehr miteinander kommunizieren, der Dialog wichtiger denn je wird.

Sie sind eine Nachbarschaft, ein Freundeskreis, Arbeitskollegen, ein Verein, eine Familie oder sonst jede erdenkliche Gruppe von Menschen, die sonst nicht in den Medien zu Gehör kommt – dann würde wir dies gerne ändern und zu Ihnen kommen. Eine feste Tagesordnung soll es von unserer Seite bewusst nicht geben. Sie setzen die Themen: Wir wollen zuhören und uns mit Ihren Anliegen und Meinungen beschäftigen und auseinandersetzen.

Schreiben Sie uns per Mail an region-westfalenpost@funkemedien.de mit einigen Informationen, warum wir Sie besuchen sollten, wer daran von Ihrer Seite teilnehmen wird und wo dies stattfinden könnte.

Wir freuen uns auf Ihre Rückmeldungen!

„Ich sach‘, was ich will“, behauptet der Mann, dem die Werkstatt gehört. Später wird er sagen, dass man die Zitate natürlich verwenden könne, dass er dazu stehe, auch mit seinem Namen in der Zeitung. Zitate, wie jenes: „Was mich bewegt, ist, dass man in diesem Land offenbar wieder Menschen erklären muss, warum Nazis scheiße sind. Die Geschichte lehrt uns, dass das furchtbar enden kann.“ Das treibt ihn derzeit am meisten um.

Während der Corona-Zeit, meint er, habe das angefangen: die Spaltung der Gesellschaft, das nicht mehr miteinander Reden. Rechts sei zu dieser Zeit wieder salonfähig geworden. „Ich war auch erbitterter Befürworter der Impfung, weil ich wollte, dass alles weitergeht“, erinnert er sich. Im Rückblick findet er: „Wie die Geimpften mit den Ungeimpften umgegangen sind, war nicht in Ordnung.“

Über Zigeunerschnitzel und Indianer

Der Mann sagt, was er denkt. Er spricht sogar etwas mehr aus, als mancher wollen würde. „Das Zigeunerschnitzel heißt so, das bestelle ich nach wie vor.“ Die Diskussionen um kulturelle Aneignung und ob Kinder sich noch als Indianer verkleiden dürfen, findet er albern. Und auch an den Schokokuss mag er sich nicht gewöhnen. „Aber das sind ja alles Kleinigkeiten.“

Einen Tag, bevor dieser Text veröffentlicht werden soll, meldet sich der Mann noch einmal. Er sagt, dass er zu dem stehe, was er sagt. Aber da ein „mittlerweile leider nicht mehr allzu geringer Teil meiner Kundschaft anders denkt als ich“, sagt er, könnten sich politische Äußerungen negativ fürs Geschäft auswirken. Das kann und will er sich nicht leisten.

Angst vor rechter Übermacht.  

Christian Heerdt aus Schwelm 

„Natürlich kann ich sagen, was ich denke. Ich glaube nur, dass manchmal die Räume fehlen, um miteinander zu reden. Wo kommen denn noch Menschen zusammen? “

Christian Heerdt

Nächste Station: Schwelm, Wochenmarkt. Die Kirchenglocken läuten über den Laternen, an denen Wahlplakate hängen. „Zeit für sichere Grenzen“, fordert dort die AfD: „Asylchaos beenden“. Ein Bärtiger tritt aus dem Verkaufszelt mit dem Obst und Gemüse. „Natürlich kann ich sagen, was ich denke“, entgegnet er. „Ich glaube nur, dass manchmal die Räume fehlen, um miteinander zu reden. Wo kommen denn noch Menschen zusammen?“

Er glaubt, dass das Internet einen erheblichen Teil beiträgt: zu der Tendenz, auf Distanz zu leben, zu der Tendenz, sich auf Basis weniger Informationen eine sehr klare Haltung anzugewöhnen. „Dadurch sind sich Menschen fremder, als sie sich sein müssten. Aber das kann man auflösen.“

„Es ist Fakt, dass man seine Meinung, die nicht dem Mainstream entspricht, nicht mehr sagen kann, ohne fürchten zu müssen, gleich als Nazi oder Rechter zu gelten.“

Bürger, der lieber anonym bleiben will

Christian Heerdt heißt der Mann, 38 Jahre alt, studierter Sozialwissenschaftler. Er engagiert sich im Verein Brauerei Schwelm, einem Zusammenschluss von Menschen, die das historische Gebäude der ehemaligen Brauerei erhalten und beleben möchten. Es soll ein Ort für Kultur und gesellschaftliche Entwicklung sein. Ein Raum für neue Verbindungen, für Gespräche. Er hält es „für eine Erzählung“, dass man nicht mehr alles sagen könne. „Zu mir hat das noch nie jemand gesagt und ich nehme das auch selbst nicht so wahr. Eher im Gegenteil.“

Aber es gibt Menschen, die das anders empfinden. Sie tragen Mütze und Daunenjacke und schlendern über den Markt. „Es ist Fakt, dass man seine Meinung, die nicht dem Mainstream entspricht, nicht mehr sagen kann, ohne fürchten zu müssen, gleich als Nazi oder Rechter zu gelten. Freie Meinungsäußerung? Das kann ich nicht unterschreiben“, sagt der 68-Jährige, der schon in Rente ist. „Wenn ich noch im Beruf wäre, wäre ich sehr vorsichtig, wem ich was erzähle.“

Mit Merkel der politischen Mitte abhanden gekommen

Der Mann sagt, dass er bis Gerhard Schröder immer SPD-Wähler gewesen sei. Von Helmut Schmidt schwärmt er. Viele Politiker heutzutage litten unter Realitätsverlust und hätten nicht einmal einen ordentlichen Beruf gelernt. Ihnen fehle jede Nähe zum Bürger.

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Der politischen Mitte ist der Mann langsam aber sicher in der Amtszeit von Angela Merkel verloren gegangen. „2015 war der Anfang vom Ende“, sagt er und zitiert den berühmten Satz der Bundeskanzlerin von damals: „Wir schaffen das.“ Er rümpft die Nase. Er hat nicht das Gefühl, dass Deutschland das schafft. Es sind ihm zu viele Flüchtlinge.

AfD-Wahler - nicht aus Protest, sondern aus Überzeugung

Auch deswegen wird er jetzt die AfD wählen, wie er sagt. Nicht einmal aus Protest. Dort finde er sich inhaltlich am besten aufgehoben. Er ist gegen das Gendern und „den ganzen Trans-Quatsch“. Und versteht nicht, dass „für eine mikroskopisch kleine Minderheit“ so ein Aufriss gemacht werde. Er tippt mit dem Zeigefinger an seine Stirn. „Was ist falsch an Trump“, fragt er und schimpft über die ARD, das ZDF, über den Spiegel, den Fokus, die Zeitungen der Funke Mediengruppe, zu der die WESTFALENPOST gehört. Zu einseitig sei die Berichterstattung. Er öffnet eine App auf seinem Handy: Nius, das Onlinemedium des früheren Bild-Chefredakteurs Julian Reichelt. „Was die veröffentlichen, liest man sonst nirgendwo“, sagt er.

Meinungsfreiheit in Deutschland? „Das unterschreibe ich nicht“, sagt einer, der anonym bleiben will - aus Sorge vor Angriffen.
Meinungsfreiheit in Deutschland? „Das unterschreibe ich nicht“, sagt einer, der anonym bleiben will - aus Sorge vor Angriffen. © Wordley Calvo Stock - stock.adobe.com | Wordley Calvo Stock - stock.adobe.com

Bei der Verabschiedung wird auch er seinen Namen nennen und sagen, dass er auch öffentlich zu seiner Meinung stehe. Zwei Tage vor der Veröffentlichung dieses Textes wird er sich aber melden und bitten, anonym bleiben zu dürfen. Er verweist auf Angriffe auf CDU-Anhänger, auf Wahlhelfer und Parteieinrichtungen „durch linke und Antifa-Gruppen“, wie er sagt. „Wenn diese Personengruppe schon so angegangen wird, was kann uns dann erwarten?“

Angst vor linker Gewalt.  

Leerstand wegen Digitalisierung

Nächste Station: Arnsberg, Sauerland-Museum. Da läuft gerade die Ausstellung „Zerrissene Träume“. Gezeigt werden Werke von Expressionisten bis 1933, die hofften, mit ihrer Kunst auf das gesellschaftliche Leben in der Weimarer Republik einwirken zu können. Mit der Machtübernahme der NSDAP zerplatzten diese Träume. „An diesen Punkt der Geschichte wollen wir nicht zurück“, sagt die Frau. „Ich habe nicht das Gefühl, dass ich nicht alles sagen kann.“ Sagt sie - und möchte anonym bleiben.

Sie bewegt, was aus Arnsberg geworden sei. „Das war mal eine attraktive, lebendige Stadt“, sagt sie und geht mit den Augen die Häuserzeilen ab. „Und jetzt? Leerstand. Nichts los.“ Die Digitalisierung habe dazu beigetragen. Dann sagt sie: „Seit 20 Jahren ist Deutschland nicht mehr Deutschland. Es muss sich was tun.“ Was das genau heißt, bleibt offen, sie muss los. Sie sagt noch, dass sie sich früher sicherer gefühlt habe.

Mama Merkel: Als Deutschland noch ein bisschen schöner war

Nächste Station: Meschede, ein Hinterhof einer Nebenstraße. Mehrere Männer sitzen im Vereinsheim von Türkgücü Meschede, dem Fußball-Landesligisten im Ort. Im Ofen brennt das Feuer, es gibt Tee, auf dem Fernseher an der Wand läuft Live-Fußball aus der Türkei. Einer der Männer ist Nurettin Kosdik, 53 Jahre alt, geboren in der Türkei, mit 14 kam er ins Sauerland. „Wenn ich meine Meinung nicht sagen könnte, dann könnte ich hier nicht leben“, sagt er.

Kosdik arbeitet für einen Autozulieferer in der Stadt. Drei-Schicht-Betrieb. Meschede ist seine Heimat. Was ihn bewegt? „Deutschland hat mir mal besser gefallen. Mama Merkel fand ich gut.“ Er lacht über seine Formulierung. Dann wird er wieder ernster, weil er sagt, dass manches, was die AfD fordere, gar nicht völlig verkehrt sei. „Deutschland tut so viel für die Flüchtlinge. Es wäre aber gut, wenn denen noch schneller und konsequenter Arbeit angeboten werden könnte.“ Kosdik ist nicht verbittert, nicht in Sorge. „Es geht uns doch gut. Es gibt so viele Orte auf der Welt, an denen es den Menschen schlechter geht. Ich habe einen Job, eine Familie, vier Kinder, alle sind gesund. Was will ich mehr?“

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Nebenan ist die Fatih-Moschee der türkisch-islamischen Gemeinde. Kosdik ist zweiter Vorsitzender. „Fast alle Probleme zwischen Menschen lassen sich lösen, wenn sie miteinander sprechen“, sagt Kosdik. Er meint damit: Indem man sich aufeinander einlässt. Er weiß das so gut, weil die Moschee immer wieder besucht wird von Fremden: Von Schulklassen oder anderen Besuchern, die in Bussen hergefahren werden. „Viele, die hier ankommen, sind reserviert. Sie wissen nicht, was sie erwartet und wie sie empfangen werden.“ Wenn sie aber dann durch die Moschee geführt worden seien, wenn sie die Gastfreundschaft erlebt hätten, wenn man ins Gespräch gekommen sei, dann gingen sie zufrieden. „Die Leute“, sagt Kosdik, „gehen mit einem Lächeln hier raus.“