Hagen. Wie Tausende andere im Land auch weiß Heike Backhaus noch nicht, wo sie Sonntag ihr Kreuzchen machen soll. Einblicke in ein Dilemma.

Nein, so weit wird es wohl nicht kommen, sagt Heike Backhaus (64) und lacht. Dass sie sich am Sonntag auf den Weg ins Wahllokal macht und erst in der Kabine entscheidet, was sie wählen wird. „Ich denke, ich werde mir vorher im Klaren sein.“ Dann sagt sie: „Ich kann mich nicht erinnern, mich vor einer Wahl jemals so schwer getan zu haben. Vielleicht als junge Frau, als ich das erste Mal wählen durfte und mich ehrlich gesagt gar nicht für Politik interessierte.“

Heute interessiert sie sich für Politik, natürlich. Und was dort geschieht, frustriert sie. Grundlegender als früher. Für sie wie für Tausende andere im Land gilt deswegen: Hilfe, ich muss wählen! Nur wen? Der Wahl-O-Mat, eine Seite, auf der Bürger ihre politischen Haltungen mit denen der Parteien abgleichen können, verzeichnet einige Tage vor der Bundestagswahl am Sonntag mit 21 Millionen Nutzungen schon Rekordzugriffszahlen, weil offenbar noch so viele nach Orientierung suchen.

Bundestagswahl: Neuanfang, aber mit wem?

Heike Backhaus betreibt mit ihrem Mann Reinhard und einer ihrer Töchter einen landwirtschaftlichen Betrieb in Wetter-Wengern. Acker und Grünland auf 120 Hektar, 50 Pensionspferde. Kinder haben sie, Enkelkinder auch. Sie war zwölf Jahre lang Kreisvorsitzende beim Landfrauenverband Märkischer Kreis/Ennepe-Ruhr/Hagen. Eine Bürgerin aus der Mitte der Gesellschaft, die denkt, wie viele aus der Mitte der Gesellschaft. „Auf der einen Seite habe ich das Gefühl, dass ein Neuanfang dringend nötig ist, weil so viele Dinge in diesem Land nicht mehr funktionieren, wie sie immer funktioniert haben“, sagt sie und beginnt ihre Aufzählung: Wirtschaft, Finanzen, Migration, Bildung, innere Sicherheit, Infrastruktur.

Neuanfang also. Aber wenn sie auf die Kandidaten schaut, die diese Aufgabe meistern sollen, dann ist sie – gelinde gesagt – nicht vollumfänglich überzeugt. „Die Auswahl ist nicht toll, ich wünschte mir was anderes, aber was anderes haben wir nicht. Es ist die Wahl des kleineren Übels“, sagt Heike Backhaus.

„Was ich jetzt fühle, geht tiefer. Das ist eine Mischung aus Ohnmacht, Wut und Angst. Das macht mich richtig beklommen.“

Heike Backhaus
Bürgerin aus Wetter-Wengern

Grundsätzlich zählt sie als Landfrau zum konservativen Lager. CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz hält sie für jemanden mit staatsmännischem Auftreten, mit Führungsqualität. Aber seine Abstimmungen zuletzt im Bundestag mithilfe der AfD haben die 64-Jährige verunsichert. Sie findet sehr wohl, dass die Einwanderungspolitik verändert werden muss. „Ich habe das Gefühl, dass zu viele Menschen zu uns kommen. So viele, dass wir das nicht schaffen, dass wir die entstehenden Probleme nicht lösen können.“ Die Attentate in Mannheim, Aschaffenburg, München, Solingen - ausgeführt von Asylsuchenden - machen ihr Angst. Trotzdem weiß sie, wen sie nicht wählen will: die AfD. „Die ist keine Alternative.“

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) habe seine Chance nicht sonderlich gut genutzt, von den Grünen dachte Frau Backhaus immer, dass sie weniger machtbesessen wären, doch zum Beispiel die jüngste Affäre um den Bundestagsabgeordneten Stefan Gelbhaar, gegen den mutmaßlich eine parteiinterne Intrige gesponnen wurde, lässt sie wütend und fassungslos zurück. Ihr Vertrauen in diejenigen, die um ihr Vertrauen buhlen, ist erschüttert.

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„Eigentlich hat man doch immer das Gefühl, dass Politiker, die ein so hohes Amt bekleiden, schlauer sind als wir Bürger, dass sie mehr Weitsicht haben als wir. Aber haben sie die wirklich? Oder geht es ihnen nicht eher um sich, ihre Macht und Pensionen?“, fragt Heike Backhaus, ohne eine Antwort zu wollen. Vielleicht hat sie sich die schon selbst gegeben.

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Natürlich habe sie sich auch früher schon über Gesetze und Entscheidungen in der Politik geärgert. „Aber das war eben nur Ärger. Der verflog auch wieder. Was ich jetzt fühle, geht tiefer. Das ist eine Mischung aus Ohnmacht, Wut und Angst. Das macht mich richtig beklommen.“

Auf der Suche nach dem Hoffnungsschimmer

Heike Backhaus will nicht, dass man glaubt, sie stehe mit diesen Gefühlen morgens auf und gehe mit diesen abends zu Bett. Sie sei ein glücklicher, zuversichtlicher Mensch, ein ausgeprägtes Gottvertrauen begleite sie immer schon. Aber da ist dieses spürbare Störgefühl. „Was ein bisschen fehlt, ist dieses Gefühl: ,Das schaffen wir doch‘. Wo ist der Hoffnungsschimmer? Wo ist der Anker?“ Sie hat ihn noch nicht gefunden, zumindest nicht in der Politik.

Doch sie muss nun – wie Tausende andere - eine Entscheidung treffen, hinter der sie nicht voll steht.. „Sonst war immer klar, was man so wählt. Aber es gibt so viele Dinge, bei denen man denkt: Werdet doch mal wach!“ Vielleicht, denkt sie laut, „vielleicht wählt man doch wieder, was man immer gewählt hat“. Vielleicht.

Weitere Meinungen

Heike Backhaus ist nicht die einzige Bürgerin, die vor dieser Wahl Schwierigkeiten hat, sich zu entscheiden. Diese Zeitung hatte einen Aufruf bei Facebook gestartet und ähnliche Kommentare erhalten. „Damals zur Zeit von Joschka Fischer, der mit den Turnschuhen im Bundestag, konnte man noch die Grünen wählen. Heute gibt‘s keine Partei mehr die wählbar wäre. AfD und BSW gehen gar nicht. Ampel ist gescheitert. Da bleibt nicht viel übrig“, schreibt Andreas. Michael meint: „In dem Dilemma stecke ich auch, da Afd oder BSW überhaupt nicht in in Frage kommen, da die großen Parteien für mich persönlich nichts im Programm haben.“

Einer derer, die Kommentare hinterließen, meinte, dass er von den großen Parteien keine für wählbar hält. Er willigte ein, ein Gespräch mit uns darüber zu führen und auch seinen Namen zu nennen. „Es gibt bei mir aktuell eine starke Tendenz. Diese weicht von meinem normalen Wahlverhalten ab. Ich habe bisher immer die SPD favorisiert. Im Moment sind die für mich aber nicht wählbar.“ Und: „Meine Tendenz geht aktuell zur CDU. Herr Merz Macht für mich den kompetentesten Eindruck. Es müsste noch viel passieren damit ich meine Meinung noch ändere.“ Kurz vor der Veröffentlichung will er doch nicht mehr öffentlich in Erscheinung treten.