Hagen/Siegen. Zwölfjährige, die mit elf Baby von Stiefvater bekam, soll am Donnerstag im Prozess aussagen. Ihre Anwältin nimmt im Interview Stellung.

Sie ist zertifizierte Opfer-Anwältin der Opferschutz-Organisation Weißer Ring, trotzdem ist der vorliegende Fall auch für sie „in jeder Beziehung absolut ungewöhnlich“, wie Jennifer Sauer erklärt.

Die Siegener Juristin vertritt in dem Missbrauchs-Prozess um eine damals Elfjährige aus Siegen-Wittgenstein, die von ihrem Stiefvater im August 2023 geschwängert worden sein soll und im vergangenen Jahr ein Kind zur Welt brachte, die Interessen des mutmaßlichen Opfers. Das heute zwölfjährige Mädchen, das sich (wie sein Baby) in Obhut des Kreis-Jugendamtes befindet, hatte zum Prozessstart in der vergangenen Woche überraschend ankündigen lassen, doch nicht zu schweigen, sondern in dem Verfahren gegen ihren angeklagten Stiefvater auszusagen.

Im Interview äußert sich Jennifer Sauer (35) über den Sinneswandel, die für diesen Donnerstag angekündigte Aussage und die Verfassung ihrer Mandantin.

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Frau Sauer, Sie zeigten sich beim Prozessstart überrascht, dass Ihre Mandantin nun doch aussagen soll, zudem unsicher, was Sie von dieser Wendung halten sollen. Mit etwas Abstand, wie bewerten Sie es nun?

Ich bin mittlerweile optimistisch, dass wir einen guten Rahmen gefunden haben, damit sie aussagen kann. Es gibt einen engen und sehr fairen Austausch zwischen Gericht, Therapeuten, Ärzten, der Vormundin und mir. Wir planen, die Bedingungen für die Vernehmung so zu gestalten, dass es nicht zu einer weiteren Gesundheitsgefährdung meiner Mandantin kommt. Ich hatte nun mehr Zeit, um mit der Vormundin und auch meiner Mandantin zu sprechen, und sehe der Aussage positiv entgegen. Meine Sorgen sind etwas kleiner geworden.

Wie kam es zu der offenbar auch für Sie überraschenden Wendung, die das Jugendamt dem Gericht eineinhalb Stunden vor Prozessbeginn angekündigt haben soll?

Das kann ich nicht genau beantworten. Das ging vom Jugendamt aus. Meine Mandantin hat kurzfristig vor Prozessbeginn geäußert, dass sie etwas sagen will. Die Vormundin und die behandelnden Ärzte mussten erstmal abstimmen, ob es sinnvoll ist, wenn sie aussagt.

Warum waren Sie zunächst unsicher, ob Ihre Mandantin aussagen soll?

Weil man nicht weiß, was sie aussagen wird. Weil man nicht weiß, ob eine Aussage psychisch tatsächlich möglich ist oder ob nicht doch der Gedanke überwiegt: ‚Ich darf nichts sagen, ich will ihm nichts Böses, es darf nichts Schlimmes passieren‘. Das kann für die anklagende Staatsanwaltschaft und mich zu einer negativen Überraschung führen. Solche Fälle sind oft eine ‚Wundertüte‘, weil wir es mit psychisch sehr beeinträchtigten Menschen zu tun haben.

Prozess am Landgericht Siegen am Dienstag den 14. Januar 2025 gegen einen Stiefvater der Kindsvater ist. Im Bild: Anwältin Jennifer Sauer.

„Ich sehe der Aussage positiv entgegen. Meine Sorgen sind etwas kleiner geworden.“

Jennifer Sauer
Anwältin des mutmaßlichen Opfers

Wie wichtig ist es für das Mädchen, aber auch für das Verfahren, dass sie aussagt?

Ich hoffe, dass ihr eine Aussage bei der Verarbeitung der Tat hilft. Das ist für mich das Wesentliche. Dann ist es natürlich auch wichtig, was im Strafverfahren herauskommt. Da ist ihre Aussage eines der wichtigsten Beweismittel. Es gibt ja nur zwei Zeugen: sie und ihren Stiefvater. In solchen Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen ist es immer wichtig, wenn das Opfer eine möglichst starke Aussage macht, die belastbar ist.

Wie viel Druck lastet da auf einer erst Zwölfjährigen, die gegen ihren Stiefvater aussagen soll?

Der Druck ist enorm, und es ist schwierig, ihr diesen Druck zu nehmen. Kinder können vieles noch nicht einordnen. Sie bekommen eingetrichtert, dass man über Missbrauch nicht reden darf, dass man nichts Schlechtes über jemanden sagt, der einem nahesteht. Kinder müssen dieses erlernte Verhalten erst einmal überwinden.

Wer entscheidet, ob es zur Aussage kommt? Das Jugendamt, Sie, das Mädchen?

Es ist eine gemeinsame Vorbereitung und Abstimmung der Rahmenbedingungen. Es liegen ärztliche Berichte vor, unter welchen Bedingungen eine Aussage aus medizinischer Sicht möglich ist, beispielsweise kein Kontakt zum Stiefvater. Wenn diese Bedingungen eingehalten werden, ist es die alleinige Entscheidung meiner Mandantin, ob sie aussagen möchte oder nicht. Wir werden sie nicht zwingen.

Wie läuft die Vorbereitung auf die Aussage?

Wir treffen uns und gehen vor der Verhandlung gemeinsam ins Gericht, damit sie die Räumlichkeiten kennenlernt. Wir werden darüber sprechen, wer im Gerichtssaal wo sitzt und wie die Vernehmung abläuft. Inhaltlich werde ich allerdings nicht mit ihr über die Tat sprechen, um ihre Aussage nicht zu beeinflussen. Aber ich möchte ihr deutlich machen, dass es darum geht, sie zu schützen, dass man auf ihrer Seite ist, dass sie nichts Falsches sagen kann. Mir geht es auch darum, dass ich eine Verbindung zu ihr aufbaue, damit sie mich als Anker sieht und eine vertraute Person an ihrer Seite hat.

Stiefvater ist Kindsvater.
Der angeklagte Stiefvater beim Prozessstart, rechts neben ihm sein Verteidiger, Daniel Nierenz. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Sie haben beim Prozessstart angegeben, dass Sie noch nie mit dem Mädchen gesprochen haben. Warum nicht?

Das ist nicht meine übliche Vorgehensweise. Hier aber ist die Konstellation besonders, weil das Jugendamt der Vormund des Mädchens und mein Auftraggeber ist. Es ging darum, meine Mandantin zu schützen. Es war aus medizinischer Sicht sinnvoll, sie nicht mit dem Verfahren zu belasten.

Der Verteidiger des Angeklagten hält Ihre Mandantin für unglaubwürdig, weil sie anfangs den Stiefvater nicht beschuldigt, sondern dies erst im Laufe der Ermittlungen nach einer Änderung ihrer Aussage getan habe. Sie sagen, das Mädchen sei glaubwürdig, aber „schwer traumatisiert“. Wie belastbar ist die Aussage Ihrer Mandantin?

Es ist sehr schwierig, das herauszufinden. Ein Trauma kann dazu führen, dass Menschen unterschiedliche Persönlichkeiten entwickeln. Bei der Vernehmung vor Gericht muss man dahin kommen, dass man mit der Persönlichkeit redet, welche die Tat erlebt hat – und die dann darüber reden kann.

Prozess am Landgericht Siegen am Dienstag den 14. Januar 2025 gegen einen Stiefvater der Kindsvater ist. Im Bild: Anwältin Jennifer Sauer. Foto:Ralf Rottmann/ Funke Foto Services

„Man muss die Rolle der Mutter meiner Mandantin generell noch betrachten im Laufe dieses Strafverfahrens.“

Jennifer Sauer
Anwältin des mutmaßlichen Opfers

Woher weiß man dann, welche Persönlichkeit das ist – und was wahr ist und was nicht?

Das ist eine gute Frage. Es gibt wissenschaftliche Kriterien, sogenannte Realkennzeichen, anhand derer man sich anmaßt – ich sage bewusst: anmaßt – zu beurteilen, ob eine Aussage wahr ist oder nicht. Das ist auch der Grund, warum eine Aussagepsychologin an dem Verfahren beteiligt ist. Die Beurteilung bleibt aber immer ein Graubereich. Es gibt allerdings im vorliegenden Fall auch objektive Beweise, beispielsweise ein Gutachten, das die ‚Kondom-Theorie‘ für unwahrscheinlich hält.

Es existiert auch, wie das Landgericht Siegen bestätigt, der Mitschnitt eines Telefonats zwischen der Zwölfjährigen und ihrer Mutter. In diesem Gespräch, das die Mutter aufgezeichnet haben soll, soll das Mädchen berichten, wie sie sich mit einem gebrauchten Kondom ihres Stiefvaters selbst geschwängert habe. Welche Rolle spielt dies für die Frage der Glaubwürdigkeit und das Verfahren?

Ich bin gespannt, welche Rolle dieser Gesprächs-Mitschnitt spielen wird, messe diesem aktuell aber keine übermäßige Bedeutung bei. Man muss die Rolle der Mutter meiner Mandantin generell noch betrachten im Laufe dieses Strafverfahrens.

Wie meinen Sie das?

Die Mutter ist in diesem Verfahren als Zeugin geladen. Falls der Telefon-Mitschnitt als Beweis vor Gericht angeführt wird, muss man sich fragen, wie diese Aufzeichnung zustande gekommen ist, warum die Mutter das Gespräch überhaupt mitgeschnitten hat, welche Beziehung Mutter und Tochter haben und welche Beziehung die Mutter zum Angeklagten, ihrem Ehemann, immer noch unterhält.

Telefonate aufzuzeichnen ist in der Regel nur mit Zustimmung der Gesprächspartner zulässig. Was vermuten Sie, warum wurde das Gespräch mitgeschnitten?

Die Gedanken, die ich dazu habe, werde ich erst im Rahmen der Beweiswürdigung in dem Verfahren äußern, wenn die Mutter als Zeugin vernommen wurde.

Anmerkung der Redaktion: Die Mutter der Zwölfjährigen äußerte sich bisher auf Anfrage dieser Redaktion nicht zu dem Fall.

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