Hagen/Siegen. Stahlkonzern will Werk in Kreuztal-Eichen schließen. So schätzen Experten die Chancen der 600 Beschäftigten auf dem Arbeitsmarkt ein.
Die Nachricht über den drohenden Verlust ihrer Arbeitsplätze kam wenige Wochen vor Weihnachten. Rund 600 Jobs stehen im Thyssenkrupp-Werk in Kreuztal-Eichen auf dem Spiel, will der Stahl-Konzern den Standort im Siegerland doch schließen. Vor allem für die Mitarbeiter und deren Familien, aber auch für die Region mit ihrer Montan-Vergangenheit war die Ankündigung ein Schock.
Auf der anderen Seite herrscht Fachkräftemangel, auch in Südwestfalen. Hätten die Thyssenkrupp-Beschäftigten – die um den Erhalt ihrer Arbeitsplätze kämpfen – also gute Chancen, schnell einen neuen Job in der Region zu finden, sollte es tatsächlich zum Aus für das Werk in Eichen kommen?
So beurteilen Arbeitsmarkt- und Wirtschaftsexperten die Situation.
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Das sagt die Bundesagentur für Arbeit:
Stephanie Krömer, Chefin der Bundesagentur für Arbeit am Standort Siegen, zu deren Bezirk die Kreise Siegen-Wittgenstein und Olpe gehören, hofft darauf, dass der drohende K.o. für das Werk von Thyssenkrupp (TKS) in Eichen noch verhindert werden kann. Betriebe wie TKS seien immer „Garanten für Beschäftigung in der Region“ gewesen, in welcher die Industrie traditionell eine der wichtigsten Branchen ist.
Das Zugpferd bereitet Krömer derzeit allerdings einige Sorgen.
„Die angekündigte Schließung des Werks in Eichen macht uns betroffen. Als Arbeitsmarktexpertin muss ich sagen, dass sie leider ein Indikator für die derzeitige Lage ist. Es ist nicht die einzige derartige Meldung, sie ist ein Stück weit symptomatisch. Die schlechten Signale mehren sich gerade“, sagt die Vorsitzende der Geschäftsführung der Siegener Arbeitsagentur.
Nachfrage nach Arbeitskräften sinkt
Krömer beschreibt den Arbeitsmarkt in der Region als „grundsätzlich robust“. Allerdings seien die Arbeitslosigkeit „merklich angestiegen“ und die Lage „recht komplex“. Die Expertin berichtet von „erschwerten Bedingungen am Arbeitsmarkt“, davon, dass die „gesamtwirtschaftliche Gemengelage“ mit unter anderem hohen Energiekosten, Inflation oder Fachkräftemangel inzwischen „Spuren hinterlässt“.
Im Agenturbezirk ist die Arbeitslosenquote seit November 2021 von 4,3 Prozent auf nun 5,3 Prozent gestiegen. Derzeit seien rund 12.500 Personen arbeitslos. Das ist vergleichsweise noch immer wenig, zudem weist Krömer darauf hin, dass die gestiegene Arbeitslosenquote beispielsweise auch mit der Aufnahme ukrainischer Geflüchteter seit März 2022 zu tun habe. Allerdings ist die Tendenz eindeutig, und es gibt weitere Indikatoren für zunehmende wirtschaftliche Probleme.
„Wir sehen momentan, dass zum Teil Fachkräfte arbeitslos werden, die aus gut bezahlten Industriejobs kommen. Es ist wichtig, dass die Personen möglichst nicht mit der Erwartung an eine neue Beschäftigung herangehen, dass ihre bisherige Bezahlung eins zu eins erreicht wird. “
So berichtet Krömer von einem derzeit „hohen Interesse“ von Unternehmen am Thema Kurzarbeitergeld, das die Bundesregierung kürzlich erst verlängert hat. Vor allem aber: „Die Nachfrage nach Arbeitskräften sinkt. Es kommen weniger neue Jobangebote hinzu“, sagt Krömer.
Laut Daten der Arbeitsagentur melden Unternehmen in den Kreisen Siegen-Wittgenstein und Olpe branchenübergreifend rund zehn Prozent weniger Stellen als im Vorjahr (Stand November, die Jahresbilanz 2024 liegt noch nicht vor). Im verarbeitenden Gewerbe beträgt das Minus sogar 20,2 Prozent.
Mögliches Problem: die Bezahlung
Im TKS-Werk in Eichen seien Dreiviertel der Beschäftigten in gewerblich-technischen Berufen tätig. In dem Bereich sei der Arbeitsmarkt im Bezirk trotz der Schwierigkeiten „noch aufnahmefähig“, sagt Krömer, „aber man müsste die Fälle immer sehr individuell betrachten. Die Chancen auf dem Arbeitsmarkt hängen beispielsweise auch davon ab, wie mobil jemand ist, wie offen jemand für ein neues Aufgabengebiet oder eine Qualifizierung ist“.
Ein weiteres Thema: die Bezahlung. „Wir sehen momentan, dass zum Teil Fachkräfte arbeitslos werden, die aus gut bezahlten Industriejobs kommen. Es ist hier wichtig, dass die Personen möglichst nicht mit der Erwartung an eine neue Beschäftigung herangehen, dass ihre bisherige Bezahlung eins zu eins erreicht wird. Auch hier müssten sie sich möglicherweise ein Stück öffnen“, sagt Krömer.
Das sagt die IHK:
Die drei Industrie- und Handelskammern aus Südwestfalen (Hagen, Arnsberg und Siegen) hatten bereits bei der Vorstellung ihrer Herbst-Konjunkturumfrage davon gesprochen, dass sich die „Anzeichen einer tiefen Rezession und einer fortschreitenden Deindustrialisierung verdichten“. Besonders dramatisch sei die Situation in der Industrie.
Laut IHK Siegen, zu deren Kammerbezirk auch der Raum Olpe gehört, sind die Industrieumsätze im Kreis Siegen-Wittgenstein im Vergleich zum Vorjahr um 4,6 Prozent und im Kreis Olpe um 4,2 Prozent zurückgegangen (jeweils im Zeitraum Januar bis Oktober). Die Zahl der Industriebeschäftigten im Kreis Siegen-Wittgenstein habe sich zwischen 2019 und 2023 um 9,1 Prozent und im Kreis Olpe um 2,5 Prozent reduziert. Bezogen auf Kreuztal sei die Zahl der Industriebeschäftigten um 10,4 Prozent gesunken.
„Die wirtschaftliche Gesamtlage macht deutlich, dass das Argument, ‚Wir haben Fachkräftemangel, da müssten die TKS-Beschäftigten doch sofort von anderen Unternehmen genommen werden‘, nur bedingt zutrifft.“
Die nun im Raum stehende Schließung des Eichener TKS-Werks mitten in der Stahlregion Siegerland würde „uns bis ins Mark treffen“, sagt Dr. Thilo Pahl. Der Hauptgeschäftsführer der IHK Siegen sieht ähnlich wie Stephanie Krömer die Entwicklung rund um Thyssenkrupp als ein Symptom der schwierigen Wirtschaftslage.
„Unsere große Sorge ist, dass die drohende Schließung des TKS-Werks in Eichen nur die nach außen sichtbare Spitze des Eisbergs ist. Wir befürchten, dass da noch viel mehr kommt. Dann wird es definitiv zu viel für den Arbeitsmarkt, dann werden die Arbeitslosenzahlen steigen“, sagt Pahl, der unter anderem darauf verweist, dass anders als möglicherweise ein Konzern viele mittelständische (Familien-)Betriebe in der Region nicht so einfach ihre Werke verlagern oder schließen könnten: „Die sind hier verwurzelt. Für die ist die Situation existenzieller.“
Kettenreaktion befürchtet
Falls es im neuen Jahr einen Konjunktur-Impuls geben sollte, stünden die Chancen gut, dass die TKS-Mitarbeiter im Ernstfall einen neuen Job in der Region finden könnten. Falls es jedoch zu der Schließung des Werks in Eichen und dann „zu einer Kettenreaktion mit einer Welle an Arbeitslosen“ komme, könne der Arbeitsmarkt die Menschen nicht aufnehmen.
„Die wirtschaftliche Gesamtlage macht deutlich, dass das Argument, ‚Wir haben Fachkräftemangel, da müssten die TKS-Beschäftigten doch sofort von anderen Unternehmen genommen werden‘, nur bedingt zutrifft. Die Unternehmen halten sich zurück, die Schwierigkeiten machen sich über alle Branchen bemerkbar“, sagt Pahl. Auch die für die Konjunktur wichtige Exporterwartung sei besonders in der Industrie „tief im Keller“, so der IHK-Experte.
In dieser Gesamtsituation werde es schwieriger, die Beschäftigten aufzunehmen, sollte ein Werk wie das in Eichen schließen. „Vor zwei, drei Jahren hätten wir gesagt, dass Beschäftigte schnell in anderen Betrieben untergekommen wären. Doch in diesem Jahr sind die Industrieumsätze deutlich zurückgegangen“, sagt Pahl.
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