Kreuztal-Eichen. Das drohende Aus für das Thyssenkrupp-Werk in Kreuztal-Eichen sorgt nicht nur Mitarbeiter. Die Stimmung im Ort - und an der Pommesbude.

Helmut Renk ist im Stress, hat nichts gegessen, seit Tagen wenig geschlafen, bewegt sich emotional zwischen Enttäuschung, Sorge, Wut und Kampfeslust. Erst einmal aber zieht sich der Betriebsratsvorsitzende im Thyssenkrupp-Stahlwerk in Kreuztal-Eichen jetzt für das Pressefoto ein weinrotes T-Shirt über sein hellblaues Hemd.

Aufschrift: „Stahlregion Siegerland muss bleiben!“

Es gibt auch Pullover oder Anstecker mit dem Slogan, mit dem sie nicht zum ersten Mal in die Schlacht um ihre Arbeitsplätze ziehen. Passender als derzeit war der Slogan allerdings wohl nie.

Es ist Tag 3 danach. Am Montag hatte Thyssenkrupp mitgeteilt, insgesamt 11.000 Stellen abbauen und den Standort im Siegerland schließen zu wollen. Für Renk und Co. war und ist es ein Schock.

In Eichen geht es vornehmlich um die Zukunft von etwa 600 Mitarbeitern (und deren Familien), aber auch um die wirtschaftliche Perspektive eines 3000-Seelen-Stadtteils, der so etwas wie eine Symbiose mit dem Werk pflegte. Und um die Perspektive der ganzen Stadt Kreuztal mit ihren 31.000 Einwohnern. Ebenfalls bedroht: die (Rest-)Identität einer Region, die nicht das Ruhrgebiet, sondern sich als „Wiege des Stahls“ versteht.

Es geht für sie in Eichen also: um alles.

Oder?

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Warnung vor „Sterben auf Raten“

Helmut Renk steht seit Tagen unter Strom. Sie besprechen im Betriebsrat, in der Belegschaft und mit der IG Metall, wie sie die – ihrer Meinung nach – unausgegorenen Pläne einer – ihrer Meinung nach – dilettantischen Konzernspitze abwenden können.

Renk, seit mehr als 40 Jahren am Standort tätig, früher einer von mehr als 3000 Mitarbeitern, erfahren im seit Jahrzehnten anhaltenden Niedergang der regionalen Montanindustrie, vergleicht die aktuelle Situation mit Dominosteinen. Nicht mit den Süßigkeiten, sondern mit dem Domino-Effekt. Wenn Eichen fiele, fielen danach auch die anderen Thyssenkrupp-Standorte im Sieger- und Sauerland. „Es ist ein Sterben auf Raten. Auch Ferndorf und Finnentrop sind gefährdet“, sagt Renk.

Die Region ist durch und mit Bergbau, Eisen und Stahl groß geworden. Das Werk in Eichen hat eine mehr als 100 Jahre alte Tradition, wechselte im Laufe der Jahrzehnte Besitzer und Namen. Was blieb, war die Verbindung zur Umgebung, zu den Menschen, von denen viele in die Fußstapfen ihrer Großväter und Väter traten und im Werk in Eichen arbeiten gingen. So wie Helmut Renk, 62, dessen Familie in dritter Generation in dem Werk tätig ist: erst sein Vater, dann er, schließlich sein Sohn. Verbunden mit dem Werk auf ewig, dachten sie. Doch jetzt droht die Trennung, auch emotional. „Früher“, sagt Helmut Renk, „sind wir hier hergekommen und waren stolz. Das geht bei mir gerade kaputt.“

Der Stahlstandort Kreuztal Eichen von ThyssenKrupp Stahl am Donnerstag den 28. November 2024. Im Bild: Betriebsratsvorsitzender Helmut-Rudi Renk. Foto:Ralf Rottmann/ Funke Foto Services

„Früher sind wir ins Werk gekommen und waren stolz. Das geht bei mir gerade kaputt.“

Helmut Renk
Betriebsratsvorsitzender

Nicht mit in den Sog geraten

Der Betriebsrat warnt aber nicht nur vor den Auswirkungen einer Werksschließung auf andere Thyssenkrupp-Standorte in der Region, sondern auch auf den Stadtteil Eichen und Umgebung, wo viele in irgendeiner Form mit dem Stahlbetrieb verbunden sind. Beispielsweise Zulieferer, Spediteure, Handwerker, Bäcker oder die Pommesbude. Die Auswirkungen könne man „mal vier rechnen“, sagt Renk, dem an möglichst viel Widerstand gegen die Konzernpläne gelegen ist.

Inzwischen scheint es jedoch, als sei es nicht mehr jedem in Eichen recht, öffentlich mit dem möglichen Untergang des Werks von Thyssenkrupp in Verbindung gebracht zu werden.

Etwa 500 Meter von dem stahlverarbeitenden Werk entfernt liegt das Gelände der Spedition Siebel, 75 Lkw, 130 Mitarbeiter. Sie sind viel, wie Arne Siebel sagt, für die gesamte Stahlindustrie unterwegs. Der Betriebsleiter ist allerdings bemüht, in den Medien nicht den Eindruck zu erwecken, durch das drohende Ende für das Thyssenkrupp-Werk in Eichen sei auch die Spedition zwangsläufig dem Untergang geweiht.

„Wir sind eine der Speditionen, die am längsten mit dem Werk verbunden sind. Aber“, betont Arne Siebel, „wir sind nicht der 100-Prozent-Thyssenkrupp-Spediteur.“

Arne Siebel, Betriebsleiter Spedition Siebel in Kreuztal-Eichen, Geschäftsführender Vorsitzender TV Eichen, CDU Kreuztal

„Wenn solch ein Werk verschwindet, geht auch viel soziale Infrastruktur verloren.“

Arne Siebel
Betriebsleiter Spedition Siebel

Soziale Infrastruktur bedroht

Arne Siebel hört man seine Herkunft an, er spricht Siegerländer Platt. Wer den Dialekt nicht kennt: klingt ungefähr wie ein Amerikaner, der Deutsch spricht. Siebel bezeichnet sich als „tief verwurzelten Eichener“. Er kommt aus dem Ort, er wohnt im Ort, er engagiert sich im Ort, etwa im Vorstand des Turnvereins. Siebel hat Höhen und Tiefen des benachbarten Stahlbetriebs miterlebt, schimpft über die Pläne des Thyssenkrupp-Vorstands, zeigt sich solidarisch mit der Belegschaft. Dabei hört sich der gelernte Schlosser wie ein Gewerkschafter an, obwohl er CDU-Lokalpolitiker ist. Um die Verbindung seines Heimatortes mit dem Werk zu erklären, erzählt der 66-Jährige beispielsweise, dass man in Eichen nicht sage, man arbeite für Thyssenkrupp, sondern in Anlehnung an den Firmenstandort: „Wir gehen nach dem Eichener Hamer.“

Früher seien die Direktoren des Walzwerks auch Vorsitzende des Turnvereins gewesen, Werksmitarbeiter hätten für ihre Freizeittätigkeit als Übungsleiter im Turnverein Freiraum erhalten, das Werk sei Sponsor gewesen, habe seine Räumlichkeiten oder auch mal ein neues Dachblech den örtlichen Vereinen zur Verfügung gestellt. „Wenn solch ein Werk verschwindet, geht auch viel soziale Infrastruktur verloren“, sagt Siebel.

Das ist das eine. Das andere: die wirtschaftlichen Auswirkungen einer Werksschließung, ein möglicher Kaufkraftverlust in und für Eichen. Siebel äußert sich hierzu zurückhaltender als Thyssenkrupp-Betriebsrat Helmut Renk. Werks-Mitarbeiter stammten nicht nur aus Eichen, sondern auch aus den umliegenden Kommunen und Kreisen, würden also nicht unbedingt in Eichen Geld ausgeben. Doch, sagt auch Arne Siebel, „man sieht in den Pausenzeiten Arbeiter in Thyssenkrupp-Kleidung in der Futterkrippe oder sonst wo“.

TKS Kreuztal Eichen.
Klare Botschaft: Am Thyssenkrupp-Werksgelände warnt die IG Metall mit einem Banner vor den von ihr erwarteten negativen Folgen im Falle der Werksschließung. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Auswirkungen auf Bäcker, Pommesbude und Co.

Sonst wo könnte beispielsweise eine Bäckerei-Filiale im Ort sein. Die diensthabende Mitarbeiterin sagt allerdings, dass sie nichts (mehr) zu dem Thema sagen dürfe, „Anweisung vom Chef“. Also zur Futterkrippe, ein Imbiss an der Hauptstraße. Pommes rot-weiß kostet hier 3,80 Euro.

Die Chefin kam tags zuvor in einem Fernsehbericht zu den Auswirkungen einer möglichen Schließung des Thyssenkrupp-Werks zu Wort. Tenor des TV-Beitrags: „Schließt Thyssenkrupp seinen Standort in Kreuztal-Eichen, leidet auch die Pommesbude nebenan.“

Heute wehrt sich die Chefin, die ihren Namen nicht (mehr) in den Medien sehen möchte, gegen diesen Eindruck. Ja, Werksmitarbeiter zählten zu ihren Kunden, ja, für Eichen, vor allem aber für die Thyssenkrupp-Mitarbeiter wäre eine Werksschließung natürlich schlecht. Doch nein, „die Futterkrippe lebt weiter“.

Trotzdem ist die drohende Werksschließung auch hier Thema.

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Paco hat 43 Jahre lang im dem Werk gearbeitet, da gehörte es noch zu Hoesch. Jetzt fürchtet er um Eichens Zukunft. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Bruder empfiehlt Bruder Verzicht

Da ist der Mann, der Pommes bestellt. Er tritt in Dienstkleidung einer Firma auf, die Schutzzäune für Maschinen herstelle. Thyssenkrupp sei kein unbedeutender Kunde. „Die“, sagt er, „brauchen viele Zäune.“

Da ist Jürgen, 74, der sich für eine Bratwurst entscheidet. Er sei gegenüber des Werks aufgewachsen, früher fünf Jahre als Kranfahrer dort tätig gewesen. Eine Schließung „wird schlimm werden“. Für die Mitarbeiter wie für Eichen.

Da ist Paco, 69, der irgendein Essen zum Mitnehmen bestellt hat, was die Chefin ihm in Zeitungspapier verpackt mit auf den Weg gibt. Er habe 43 Jahre lang in dem stahlverarbeitenden Betrieb gearbeitet, da gehörte der noch zu Hoesch. Schließe das Werk, „geht hier alles kaputt“, meint der Rentner.

Andererseits ist da, auf der anderen Straßenseite, ein Passant. Er, der anonym bleiben möchte, habe einerseits – beruflich – nichts mit Thyssenkrupp zu tun, andererseits arbeite sein Bruder im Werk. Er findet, dass sein Bruder und die anderen Thyssenkrupp-Mitarbeiter, die betriebsbedingte Kündigungen und die Standort-Schließung kategorisch ablehnen, „die Tür aufmachen und verzichten sollten“. Wenn 150 von 600 Stellen gestrichen würden, damit der Standort erhalten bliebe, wäre das „eine gute Chance“, findet er, „zumindest für die, die bleiben“.

Wie sein Bruder das bewertet, dazu sagt er nichts.

TKS Kreuztal Eichen.
(Sonnen-)Untergang in Kreuztal-Eichen: Dem Thyssenkrupp-Werk droht die Schließung. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Zukunft ohne Stahl oder Stahl ohne Zukunft?

1000 Meter die Straße runter, im Büro von Thyssenkrupp-Betriebsrat Helmut Renk ist auf einem Plakat die Botschaft zu lesen: „Stahl ist Zukunft“.

Nach Lage der Dinge droht in Eichen jedoch: Stahl ohne Zukunft.

Oder: Zukunft ohne Stahl.

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