Dortmund/Siegen. Ein italienischer Kronzeuge sagt im Prozess um die Siegener Mafia-Eisdiele aus. Wie ein Experte die Verhandlung in Dortmund einstuft.

Der Mann in dem karierten Sakko und der Schlägermütze auf dem Kopf ist nur von hinten zu sehen. Er erscheint per Videoschalte auf dem großen Bildschirm im Landgericht Dortmund. Luigi B. war einst - wie er es selbst nennt - ein „Boss“ der kalabrischen Mafia-Organisation `Ndrangheta, der unter anderem als „Killer“ tätig gewesen sei. Weitere „Arbeitsgebiete“ nach seiner Aussage: Betrug, Drogenhandel und Erpressung. 2005 löste er sich von der `Ndrangheta los, arbeitete fortan mit der italienischen Justiz zusammen und kam in ein Zeugenschutzprogramm. Am Freitag sagte er im Prozess um die mutmaßliche Siegener Mafia-Eisdiele aus.

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Seit Anfang Juni müssen sich die Brüder Antonio (38) und Francesco M. (39), die das Eiscafé „al Teatro“ in der Siegener City bis zu einer europaweiten Durchsuchungsaktion betrieben hatten, sowie deren Mitarbeiter Antonio G. (26) wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen kriminellen Vereinigung sowie banden- und gewerbsmäßiger Geldwäsche vor der Staatsschutzkammer des Landgerichts Dortmund verantworten. Ein langwieriger Prozess, der bereits wiederholt verlängert werden musste.

Luigi B. per Video zugeschaltet

Und auch die Zeugenvernehmung des Mafia-Kronzeugen Luigi B. muss wegen technischer Probleme bei der Videoübertragung mit einstündiger Verspätung starten. Die Kammer um den Vorsitzenden Richter Dirk Kienitz erhofft sich von dem zugeschalteten Zeugen wichtige Information zur Organisation und Struktur der `Ndrangheta.

Wenn Luigi B. spricht, reden seine Hände mit. Sie sind immer wieder neben seinem Hinterkopf zu erkennen. Der 53 Jahre alte Familienvater sitzt in einem Saal der italienischen Justiz und erzählt, dass er mit seiner Geburt Mitglied der kalabrischen Mafia geworden ist: „In der `Ndrangheta geht die direkt vom Vater auf den Sohn über. Mein Vater war auf der Führungsebene tätig.“

Aus dem Nähkästchen des organisierten Verbrechens

Bevor er selbst dieses Level erreichte, war er nach seinen Schilderungen als „Kindersoldat“ aufgewachsen und an Waffen ausgebildet worden. „Ich habe früh gelernt zu töten“, sagt er. Und jegliche Form illegaler Aktivitäten kennengelernt: „Bis auf Heroinhandel und Prostitution. Das gibt es bei der `Ndrangheta nicht, weil es zu viel öffentliche und behördliche Aufmerksamkeit hervorrufen kann.“

Wenn man so will, plaudert Luigi B. aus dem Nähkästchen des organisierten Verbrechens: dass die „Regeln“ der `Ndrangheta von Generation zu Generation weitergegeben werden („über allem steht la famiglia“); dass die Personen auf der Führungsebene unsichtbar agieren; dass Deutschland neben Italien der zweitwichtigste Standort der kalabrischen Mafia ist; dass Kokain aus Kolumbien auf Frachtschiffen nach Europa gebracht werde; dass Gewinne aus illegalem Drogenhandel immer reinvestiert werden; dass gastronomische Betriebe Orte zum Treffen und zum „Austausch von Geheiminformationen“ seien; dass der Ort San Luca die spirituelle Hauptstadt der kalabrischen Mafiosi sei. Luigi B.: „San Luca ist für die `Ndranghetisten so wie Jerusalem für die Christen.“

Schwierige Zeugenvernehmung

Es ist eine schwierige Zeugenvernehmung an diesem Tag. Die Technik spielt nicht immer mit, jeder Satz von Luigi B. muss von einer Dolmetscherin übersetzt werden, und immer wieder unterbricht die Verteidigung mit Beanstandungen - dass der 53-Jährige keine Tatsachen, sondern nur „Erfahrungssätze“ schildere und er seit 20 Jahren ohnehin nicht mehr in der Organisation aktiv sei.

Ende 2005, so berichtet Luigi B., habe er sich von der `Ndrangheta losgelöst. Und führt seitdem er gegen den Ehrenkodex der Mafia verstoßen hat, ein ganz vorsichtiges Leben: „Nach meinem Ausstieg hat mein Vater zwei Mal versucht, mich umzubringen“, sagt er in das Mikrofon.

„Eine Entscheidung aus Liebe“

Und warum wollte er vor fast 20 Jahren nichts mehr mit der `Ndrangheta zu tun haben? Luigi B. spricht von einer „Entscheidung aus Liebe“. Er habe sich nie aussuchen können, Mitglied zu sein. „Ich bin da reingeboren. Ich wollte nicht, dass meine Kinder so werden wie ich.“

Die Zeugenaussage per Videoschalte verfolgt auch der deutsch-italienische Buchautor Sandro Mattioli aufmerksam im Saal 130. Mattioli ist Vorsitzender des Vereins „Mafianeindanke“ in Berlin. Sein im vergangenen Mai erschienenes Buch „Germafia. Wie die Mafia Deutschland übernimmt. Ein Erfahrungsbericht“ (Verlag Westend), in dem auch Luigi B. zu Wort kommt, hat es in die Spiegel-Bestsellerliste gebracht. „Der Prozess in Dortmund“, sagt Mattioli, „ist von großer Bedeutung, weil den drei Angeklagten auch die Mitgliedschaft in einer ausländischen kriminellen Vereinigung vorgeworfen wird.“

Sandro Mattioli
Mafia-Experte Sandro Mattioli im Landgericht Dortmund. © Westfalenpost | Rolf Hansmann

Häufig, so Mattioli weiter, nutzten die Strafverfolgungsbehörden den entsprechenden Paragrafen 129 des Strafgesetzbuchs nur zum Einleiten von Ermittlungen, in Gerichtsverfahren werde er äußerst selten angewandt - weil eine solche Mitgliedschaft eher schwer nachzuweisen sei und hierzulande eher geringe Haftstrafen zu erwarten seien: „Das führt dazu, dass kriminelle Organisationen wie die `Ndrangheta öffentlich und juristisch nicht sichtbar werden.“

Eine Verurteilung der drei Angeklagten wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen kriminellen Vereinigung wäre ein wichtiger Schritt, findet der Mafia-Experte. Bislang habe kein Obergericht in Deutschland ein derartiges Urteil gesprochen. Lediglich das Amtsgericht Konstanz sei in einem Mafia-Prozess im Jahr 2021 zu einer solchen Bewertung gekommen.

Konkrete Straftaten nachzuweisen?

Dass Mafia-Mitglieder wie die `Ndrangheta Gastronomiebetriebe leiteten bzw. in ihnen beschäftigt seien, hat Mattioli zufolge verschiedene Vorteile für die Organisation: „Mitglieder erschließen sich Zugang zu Menschen aus verschiedenen Schichten der Gesellschaft, die ihnen später bei Geschäften helfen können. Von Restaurants oder Eiscafés lassen sich unauffällig Geld- und Warenflüsse bewegen. Zudem sind solche Betriebe imagefördernd für die Beteiligten. Man mag sich nicht vorstellen, dass der Stamm-Italiener etwas mit der Mafia zu tun haben könnte. Zudem fallen Mafia-Mitglieder, die nur schlecht deutsch sprechen, in solchen Räumen nicht weiter auf.“

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Ein Knackpunkt im Dortmunder Prozess rund um die mutmaßliche Siegener Mafia-Eisdiele scheint zu sein, den drei Angeklagten konkrete Straftaten nachzuweisen. Warum ist das so schwierig? „Weil hinter kriminellen Mafia-Aktivitäten oft Netzwerke stehen“, sagt Mattioli, „man geht arbeitsteilig vor, es gibt nicht den Einzeltäter.“ Zudem sei die Kommunikation abgeschottet, so gestalte es sich schwierig, Strukturen zu erkennen. Und: „Was sich auch bei der heutigen Vernehmung des Kronzeugen mit Hilfe von Dolmetscherinnen gezeigt hat: Ermittlungsarbeit zwischen deutschen und italienischen Behörden ist auch wegen der Sprachbarrieren alles andere als einfach.“