Siegen. Sandro Mattioli ist ein führender Mafia-Experte. Er erklärt, wie die Mafia versucht, sich auch bei uns unauffällig zu verbreiten.
Das Eis schien geschmacklich in Ordnung zu sein. Aber das Personal... Mal kritisierten Gäste des Siegener Eiscafés „Al teatro“ in Bewertungsportalen verunreinigte Tische, mal die langsame, lustlose oder unfreundliche Bedienung - angeblich nicht immer deutschsprachig. Als Beispiel für den „katastrophalen Service“ teilte ein User eine Beobachtung hinter der Eistheke: Mitarbeiter ließen sich im laufenden Betrieb eine Flasche Bier schmecken.
Staatsanwaltschaft: Drei mutmaßliche Mitglieder der Mafia in der Eisdiele
Eine gewisse Unprofessionalität könnte darin begründet gewesen sein, dass das Personal der Eisdiele nicht vom Fach war. Drei Männer aus seinen Reihen im Alter von 25 bis 39 Jahren sollen nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft Düsseldorf seit Dezember 2016 der kalabrischen Mafia-Organisation `Ndrangheta angehören. Am heutigen Mittwoch um 9:30 Uhr startet der Prozess vor der Staatsschutzkammer des Landgerichts Dortmund.
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Die bei der NRW-Behörde angesiedelte Zentral- und Ansprechstelle für die Verfolgung Organisierter Straftaten hat die drei mutmaßlichen Mafiosi wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen kriminellen Vereinigung sowie banden- und gewerbsmäßiger Geldwäsche angeklagt. Der Prozess vor der Staatsschutzkammer des Landgerichts Dortmund beginnt am Mittwoch, 5. Juni.
Nach Informationen der WESTFALENPOST handelt es sich bei dem Trio um die Brüder Antonio und Francesco M. (37 und 39), die die Eisdiele in der Siegener City seit 2017 als GmbH betrieben haben sollen, sowie um den mutmaßlichen Angestellten Antonio G. (25). Die Drei waren den Ermittlern bei Durchsuchungen rund um die im Juli 2020 gestartete europaweite Anti-Mafia-Operation „Eureka“ im Mai 2023 ins Netz gegangen. Das „Al teatro“ wurde damals geschlossen. Der jüngere der beiden Brüder aus der `Ndrangheta-Hochburg San Luca war Wochen nach der Razzia von den italienischen Behörden nach Deutschland ausgeliefert worden.
Hochrangiger Mafioso soll 400.000 Euro in die Eisdiele in Siegen investiert haben
Der Düsseldorfer Staatsanwalt Julius Sterzel bestätigt auf Anfrage, dass die Ermittler ein „hochrangiges Mitglied der `Ndrangheta aus San Luca“ als Hintermann der Siegener Mafia-Aktivitäten betrachten. Der Mann soll etwa 400.000 Euro in die Eisdiele investiert haben und sei in den Räumlichkeiten auch „wahrgenommen“ worden: „Bei der Staatsanwaltschaft Reggio Calabria in Italien wird er als einer der führenden Köpfe der `Ndrangheta im internationalen Drogenhandel geführt.“ Nach Informationen der WESTFALENPOST handelt es sich dabei um Salvatore G. (Jahrgang 1974), Schwager eines der beiden Eisdielen-Betreibers. Er soll derzeit in Kalabrien vor Gericht stehen. Zu seinen Stippvisiten in Siegen soll er ein uns andere Mal auch seinen Sohn mitgebracht haben, der in diesen Fällen in dem Eiscafé mit angefasst haben soll.
Angelparadies: Noch keine Mafia-Anklage gegen Besitzer
Bei den Durchsuchungen im Rahmen der Anti-Mafia-Operation „Eureka“ im Mai 2023 wurde auch ein deutscher Staatsbürger aus Hattingen, Besitzer des Angelparadieses in Breckerfeld, festgenommen. Der damals 62-Jährige soll im Auftrag der `Ndrangheta am Kokain-Schmuggel beteiligt gewesen sein. Gegen ihn wurde noch keine Anklage erhoben.
Dass ein Deutscher für die kalabrische Mafia arbeitet, ist Buchautor Sandro Mattioli zufolge nicht ungewöhnlich: „Die ´Ndrangheta ist kein rein italienisches Phänomen. Auch Nicht-Italiener können mittlerweile Mitglied werden. Die Mafia-Organisation hat immer mit anderen zusammengearbeitet bzw. an diese Aufträge verteilt – und den Aufbau von Netzwerken in die Politik, in die Wirtschaft und in die Finanzwelt forciert. Warum sollte das in Deutschland nicht anders sein?“
Eine Eisdiele im Siegerland als unauffälliger Aufenthaltsort italienischer Mafiosi, in der sich zudem immer mal wieder ein Pate blicken lässt? Wenn man Sandro Mattioli das Klischee vom Mafia-Boss erzählt, der als Teil der ehrenwerten Gesellschaft seinen Reichtum und seine hervorgehobene Position öffentlich zur Schau stellt, muss er erst einmal lachen. „Das gibt es nur in Spielfilmen wie ,Der Pate‘. Aber viele Menschen in Deutschland hängen solchen Zerrbildern nach“, sagt der deutsch-italienische Journalist, Vorsitzender des Vereins „Mafianeindanke“ in Berlin. Vor drei Wochen hat er sein neues Buch „Germafia. Wie die Mafia Deutschland übernimmt“ (Verlag Westend) herausgebracht.
`Ndrangheta wurde nach Sechsfach-Mord in Duisburg bundesweit bekannt
Mattioli recherchiert seit langem über die `Ndrangheta. Die Mafiaorganisation wurde im August 2007 bundesweit bekannt, als in Folge einer Fehde zwischen zwei verfeindeten Clans sechs Menschen vor einem italienischen Restaurant in Duisburg erschossen wurden. „Der Sechsfach-Mord hat die Strategie der ´Ndrangheta erst begründet, in Deutschland unauffällig zu bleiben“, erklärt Mattioli. Sie habe damals verstanden, dass sie hierzulande Probleme bekomme, wenn sie öffentlich in Erscheinung trete.
Dass sich Mitglieder an unauffälligen Orten wie Eisdielen oder Restaurants aufhalten, sei da folgerichtig, so Mattioli: „Hinzu kommt, dass Gastro-Betriebe Orte der sozialen Vernetzung sind. Die Stärke der ´Ndrangheta ist, Kontakte aufzubauen.“
Eisdielen und Restaurants eigneten sich dafür extrem gut: „Hierhin kommen Menschen, die der Mafia dienlich sein können. Nicht unmittelbar bei kriminellen Geschäften, aber indem man Netzwerke auch in höhere Gesellschaftsschichten aufbaut, verspricht man sich eine Art Schutzfunktion. Wenn ein Gastwirt und ´Ndrangheta-Mitglied hohes gesellschaftliches Ansehen genießt, wird es schwerer, gegen ihn zu ermitteln, sofern er sich nicht brutaler und gewaltsamer Delikte schuldig macht.“
Mafia hat „immense Geldmengen“ aus dem Kokainhandel zur Verfügung
Dass in dem Siegener Eiscafé nicht alles mit rechten Dingen zugegangen ist, kann sich der Journalist gut vorstellen. „Es würde mich nicht überraschen, wenn dort tatsächlich Geld aus Kokaingeschäften gewaschen wurde.“ Die Clans hätten immense Geldmengen aus dem Kokainhandel zur Verfügung. „Diese Gelder sind im Umlauf. Um sie zu waschen, benötigt man eine Vielzahl von Unternehmen. Natürlich bieten sich da Gastro-Betriebe an, aber nicht nur.“
`Ndrangheta: Mindestens 3000 Mitglieder in Deutschland
Anti-Mafia-Aktivist Sandro Mattioli hält die von der Bundesregierung in Umlauf gebrachte Zahl von 520 ´Ndrangheta-Mitgliedern in Deutschland für viel zu niedrig. Italienische Staatsanwaltschaften gingen von hierzulande 60 „locali“ aus, einer Art Ortsverein der ´Ndrangheta: „Da eine solche Einheit mindestens 50 Mitglieder haben muss, kommt man schnell auf eine Mindestzahl von 3000 in Deutschland.“
Nach Italien sei Deutschland für die ´Ndrangheta das zweitwichtigste Land, sagt Mattioli: „Sie weiß, dass es hier viele Möglichkeiten der Geldwäsche, gesetzliche Lücken und Probleme bei der Verfolgung von Straftaten gibt, die keine Kapitalverbrechen sind.“ Der ´Ndrangheta komme zugute, dass die Bekämpfung von Geldwäsche in Deutschland über Verdachtsmeldungen geregelt sei: „Das bedeutet: Kommt ein Mensch mit einer großen Geldmenge beispielsweise zu einem Banker oder einem Autohändler, sind diese eigentlich verpflichtet, einen Verdacht zu melden. Was fehlt, ist ein pro-aktives Vorgehen der Behörden. Wie sollen da illegale Investments aufgespürt werden?“
Zur Struktur der kalabrischen Mafia sagt Mattioli: „Die `Ndrangheta kann man sich wie eine große Automarke vorstellen: Es gibt ein Gesamtunternehmen, das klare Vorgaben für die Marke macht und unter deren Dach selbstständige Teileinheiten versammelt sind. Die `Ndrangheta hat einen oberen Koordinierungsrat, der mit dem Ort San Luca verknüpft ist, und unzählige Clans, deren Stammsitze über Kalabrien verteilt sind, die aber weltweit agieren.“
Mattioli kritisiert, dass in Deutschland der Blick auf die `Ndrangheta immer noch allzu sehr auf die klassisch-mafiösen Straftaten wie Erpressung oder Drogenhandel gerichtet sei: „In meinem Buch zeige ich das systematische Interesse der ´Ndrangheta für den Finanzsektor auf. Alleine die dort anfallenden Steuerstraftaten werden nicht in der polizeilichen Kriminalitätsstatistik geführt. Genau genommen, helfen wir der Mafia hierzulande, strukturell unsichtbar zu sein.“
Hintermann der Siegener Eisdiele bei Ermittlern wegen Kokaingeschäften bekannt
Zurück nach Siegen: Mit Blick auf den mutmaßlichen Hintermann der dortigen Mafia-Geschäfte, Salvatore G., geht Mattioli davon aus, dass dieser „tatsächlich eine herausragende Position zumindest im Kokainhandel bekleidet hat“. Sein Name jedenfalls sei im Zusammenhang mit Kokainschmuggel aus Lateinamerika den italienischen Ermittlungsbehörden bekannt.
Die Ware soll auf Containerschiffen nach Europa gekommen sein. Mattioli: „Wenn er als absoluter Protagonist des Drogenhandels bei den Strafverfolgern in Erscheinung tritt, ist aber eher unwahrscheinlich, dass er Teil des obersten Koordinierungsgremiums der Gesamt-Ndrangheta ist.“
Eisdiele als „Logistikstützpunkt“ der Mafia
Die Geldwäsche der illegalen Betäubungsmittelgewinne soll der Staatsanwaltschaft Düsseldorf zufolge nicht die einzige illegale Aktivität im „Al teatro“ gewesen sein. So sollen aus den Tageseinnahmen Gelder an weitere `Ndrangheta-Mitglieder in Italien geflossen sein.
Und die Eisdiele habe als Logistikstützpunkt gedient - zum Untertauchen gesuchter Mitglieder, aber auch als eine Art „Trainingslager“ für den Mafia-Nachwuchs: „Das ist gut möglich“, sagt Anti-Mafia-Aktivist Sandro Mattioli, „Gastro-Betriebe haben häufig einen personellen Durchlauf. Es fällt nicht auf, wenn auf einmal zwei Personen dort arbeiten, die vorher nicht da waren. Das heißt, ein solcher Ort ist eine Anlaufstelle, hier findet man einen Unterschlupf auf Zeit.“
Gastro-Betriebe seien, so Mattioli weiter, nicht nur mit Blick auf einen personellen Durchlauf für die Mafia interessant, sondern auch für einen „Produktdurchlauf: Ein `Ndrangheta-Clan kann relativ einfach solche Betriebe dazu nutzen, um Waffen- oder Drogenlieferungen durchzuschleusen.“
Mafia-Prozess vor dem Landgericht Dortmund beginnt am 5. Juni
Eine Anfrage der WESTFALENPOST an Anwälte der Siegener Angeklagten blieb bislang unbeantwortet. Sollte es bei dem am Mittwoch, 5. Juni, beginnenden Prozess vor dem Landgericht Dortmund zu einer Verurteilung kommen, wäre es die erste eines Obergerichts in Deutschland gegen einen mutmaßlichen `Ndrangheta-Mafioso wegen der Mitgliedschaft in einer ausländischen kriminellen Vereinigung.
Infos: mafianeindanke.de; Sandro Mattiolis Buch „Germafia. Wie die Mafia Deutschland übernimmt“ ist im Verlag Westend erschienen.