Hagen/Arnsberg. „Menschenunwürdige“ Umstände: Das Verwaltungsgericht Arnsberg untersagt Rückführungen nach Belgien, Frankreich und Italien. Die Gründe.
Mehr und schneller – diese Marschroute haben Bundes- und NRW-Landesregierung bei Abschiebungen von Flüchtlingen ausgerufen.
Allerdings hatte zuletzt eine Umfrage der WESTFALENPOST unter den Ausländerbehörden in Südwestfalen ergeben, dass nur ein Bruchteil der ausreisepflichtigen Ausländer abgeschoben wird (und dass die Statistik nicht vollständig ist, da etwa Migranten, die unter das Chancen-Aufenthalts-Gesetz der Ampel-Koalition fallen, nicht mitgezählt werden).
Eines der vielen Hindernisse, das laut Ausländerbehörden Abschiebungen verhindert: Einwände von Verwaltungsgerichten.
In Arnsberg sitzt eines von sieben Verwaltungsgerichten in NRW. Wie aus veröffentlichten Entscheidungen hervorgeht, untersagte das Arnsberger Gericht sogar Rückführungen von Flüchtlingen in die EU-Länder Belgien, Frankreich und Italien. Begründung: Dort drohten den Klägern „menschenunwürdige“ Bedingungen.
Wie das Verwaltungsgericht solche Entscheidungen erklärt und wie Experten die Fälle bewerten:
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Der Fall Italien:
Es ist kein Geheimnis, dass einige EU-Staaten sich weigern, Flüchtlinge zurückzunehmen, obwohl sie dazu im Rahmen der Dublin-Verordnung verpflichtet wären. Diese EU-Vereinbarung sieht die Rücknahme von Asylbewerbern durch das Land vor, in dem sie zuerst registriert wurden.
Das Verwaltungsgericht Arnsberg attestiert in einem Urteil aus dem Januar 2023 Italien eine „Verweigerungshaltung“.
Im konkreten Fall geht es um die Abschiebung eines syrischen Asylbewerbers, der über Libyen nach Italien und im Mai 2022 nach Deutschland gekommen war. Weil nun zum einen die Rückführung aufgrund der italienischen Blockade nicht möglich und zum anderen aufgrund überlasteter Aufnahmeeinrichtungen in Italien nicht gewährleistet sei, dass dort „die elementarsten Bedürfnisse nach ‚Bett, Brot und Seife‘“ erfüllt würden, sei die Abschiebung des Syrers nicht möglich, begründet das Gericht.
„Selbst wenn eine Einreise nach Italien durchgeführt werden könnte, wären dort die elementarsten Bedürfnisse nach ‚Bett, Brot und Seife‘ nicht gewährleistet.“
In diesem Urteil und in vergleichbaren Entscheidungen ist die Rede davon, dass „systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen“ in manchen Ländern „eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung“ im Sinne der Charta der Grundrechte der Europäischen Union darstellten, etwa monatelange Obdachlosigkeit. In solchen Fällen kann gemäß Dublin-Verordnung ein anderer als der ursprünglich zuständige EU-Staat für einen Asylbewerber verantwortlich werden, beispielsweise: Deutschland.
Der Fall Belgien:
Ein alleinstehender männlicher Flüchtling reist aus der Türkei kommend nach Bulgarien, stellt erst dort, später dann in Belgien und schließlich in Deutschland Asylanträge. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ordnet im November 2023 fristgerecht die Rückführung nach Belgien an, das sich zur Rücknahme des Antragstellers bereit erklärt. Trotzdem untersagt das Verwaltungsgericht Arnsberg mit Beschluss vom 9. Februar 2024 die Abschiebung. Begründung: „systemische Schwachstellen“ und damit die Gefahr einer „erniedrigenden Behandlung“ in Belgien.
In diesem Fall handelt es sich um einen Folgeantragsteller, also einen Flüchtling, der nach Ablehnung erneut einen Asylantrag stellt. Das Gesetz in Belgien sehe die Möglichkeit vor, dass diesen Personen eine Unterbringung verweigert werde, bis der Asylantrag für zulässig befunden worden sei. Das Unterbringungssystem in Belgien stehe unter starkem Druck, gelte seit Sommer 2021 als chronisch überlastet, die Bemühungen der belgischen Regierung, für Abhilfe zu sorgen, würden als „nicht ausreichend“ erachtet. Außerdem setze der belgische Staat tausende Urteile nationaler Gerichte zur Unterbringung von Flüchtlingen „nicht oder nur schleppend um“, erklärt das Verwaltungsgericht Arnsberg.
„Der Antragsteller würde im Falle seiner Rückkehr nach Belgien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit weder Zugang zu einer menschenwürdigen Unterkunft noch zu sanitären Einrichtungen erhalten.“
Daher würde der Flüchtling im deutschen Nachbarland „voraussichtlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (...) in eine Situation extremer materieller Not geraten“. Ihm drohe „mit beachtlicher Wahrscheinlich eine längere Periode der Obdachlosigkeit“, die Rede ist von mindestens vier Monaten.
Der Fall Frankreich:
Hier geht es um eine Geflüchtete, die Anfang September 2018 zusammen mit ihrer zehnjährigen, Asthma-erkrankten Tochter aus Deutschland zurück nach Frankreich abgeschoben wurde. Die Frau kehrt Ende desselben Monats nach Deutschland zurück, gibt an, in Frankreich mit ihrer Tochter auf der Straße gelebt zu haben. Sie habe weder Unterkunft noch Hilfe erhalten, kein Geld gehabt, sei vergewaltigt worden. Hätte sie sich nicht um ihre Tochter kümmern müssen, hätte sie sich umgebracht, gibt die Frau laut Beschluss des Verwaltungsgerichts Arnsberg vom 25. April 2019 an.
Das Gericht kommt zu dem Schluss, dass „im vorliegenden Einzelfall Anhaltspunkte dafür vorliegen, die – abweichend von der grundsätzlich bestehenden Regelkonformität des französischen Asylsystems – dafür sprechen könnten, dass die Antragstellerin für den Fall einer erneuten Rücküberstellung nach Frankreich wiederum der von ihr geschilderten humanitären Notlage ausgesetzt wäre“. Zumal Dublin-Rückkehrer in Frankreich unter Umständen nur „sehr schwer“ Zugang zum Asylverfahren erhielten und diesem Personenkreis „ein hohes Maß an Eigeninitiative abverlangt“ werde, um eine Unterkunft und Zugang zu medizinischer Versorgung zu erhalten.
„Die Antragstellerin wäre für den Fall einer erneuten Rücküberstellung nach Frankreich wiederum der von ihr geschilderten humanitären Notlage ausgesetzt.“
Außerdem habe die Frau kurz nach Zustellung des BAMF-Abschiebungsbescheides vom 5. Februar 2019 einen Suizidversuch unternommen.
Das sagt der Flüchtlingsrat:
Birgit Naujoks, Geschäftsführerin des Flüchtlingsrates NRW, hält alle geschilderten Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Arnsberg für richtig.
Belgien beispielsweise sei zwar grundsätzlich beim Asylsystem „ordentlich“ aufgestellt. Aber in einzelnen Punkten und für einzelne Gruppen würden die Mindeststandards doch nicht immer erfüllt. Etwa bei Folgeantragstellern, wie in dem geschilderten Fall.
„Es geht nicht darum, wie Friedrich Merz gesagt hat, dass Ausländer nach Deutschland kommen, um sich die Zähne schön machen zu lassen. Es geht um Lebensgefahr.“
„Es ist eine Einzelfallentscheidung. Das heißt nicht, dass niemand mehr nach Belgien überstellt wird“, sagt Naujoks und erklärt: „Systemische Mängel zeigen sich nicht daran, dass eine bestimmte Anzahl von Fällen vorliegt, sondern dass nicht zu jedem Zeitpunkt und nicht in jedem Fall die Bedingungen erfüllt sind, beispielsweise Unterbringungskapazitäten nicht immer ausreichen.“
Eines wundert Naujoks dann aber doch: mancher Beitrag zur Abschiebe-Debatte, in der es mitunter auch um Rückführungen in Zielländer gehe, in denen Gesundheit und Leben nicht sichergestellt seien. „Ich bin sehr verwundert, für was alles kein Verständnis mehr in Deutschland aufgebracht wird. Bei uns gelten unter anderem die Menschenwürde und das Rechtstaats- und das Sozialstaatsprinzip. Deutschland darf, wie das Bundesverwaltungsgericht es ausdrückt, niemand sehenden Auges in den Tod schicken“, sagt sie und betont: „Es geht nicht darum, wie Friedrich Merz gesagt hat, dass Ausländer nach Deutschland kommen, um sich die Zähne schön machen zu lassen. Es geht um Lebensgefahr.“
Das sagt der Jurist:
Prof. Dr. Kay Hailbronner, Experte für Asyl- und Ausländerrecht, erklärt, dass deutsche Gerichte verpflichtet seien, Entscheidungen des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zu befolgen. Das bedeute aber nicht, dass sie sich nicht von der EGMR-Rechtsprechung distanzieren könnten.
„Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist in Schönwetterperioden entwickelt worden.“
Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Auslegung des Begriffs der „unmenschlichen Behandlung“ sei in „Schönwetterperioden“ entwickelt worden. Außerdem werde diese Auslegung von den deutschen Verwaltungsgerichten und dem Bundesverfassungsgericht in „sehr unkritischer Weise übernommen“ und „zum Teil überloyal“ angewendet, sagt der emeritierte Professor der Universität Konstanz.
Für „besonders schief“ hält er die Rechtsprechung zu Dublin-Fällen. Die Dublin-Verordnung werde „außer Kraft gesetzt – mit den bekannten Folgen“.
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