Hagen. Die Bluttat von Solingen forciert die Diskussion über Rückführungen. Woran in Südwestfalen der Großteil der Abschiebungen scheitert.

Nach der Tötung von drei Menschen auf dem Stadtfest in Solingen am vergangenen Freitag, für die ein syrischer Flüchtling (26) verantwortlich gemacht wird, hat sich die Diskussion um Abschiebungen ausländischer Straftäter und abgelehnter Asylbewerber verschärft.

Die Bundesregierung will erklärtermaßen mehr und schneller abschieben. Jedoch gelingt bisher nur ein Bruchteil der Rückführungen – auch in Südwestfalen.

Wie viele – beziehungsweise: wie wenige – Abschiebungen in der Region durchgeführt werden und woran es oft hapert, zeigt eine Umfrage der Westfalenpost unter den Ausländerbehörden.

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Wie viele Menschen sind in der Region ausreisepflichtig?

Im Hochsauerlandkreis (ohne die Stadt Arnsberg, die eine eigene Ausländerbehörde hat) leben derzeit 507 ausreisepflichtige Ausländer aus insgesamt 46 verschiedenen Staaten, erklärt der Kreis auf Anfrage. Die Top 3 der Herkunftsländer: Irak, Nigeria und Guinea.

Seien vor sieben Jahren noch 141 Abschiebungen durchgeführt worden, ist die Zahl der Rückführungen laut Kreisangaben seit Corona eingebrochen. In diesem Jahr seien bisher 17 von 21 geplanten Abschiebungen vorgenommen worden, 2023 waren es 24 von 36.

Die Stadt Arnsberg meldet 80 Ausreisepflichtige. In diesem Jahr sei bisher eine Abschiebung vollzogen worden, geplant seien derzeit drei weitere. 2023 seien zwei Abschiebungen erfolgt. Die Durchführung und Erfassung von Abschiebungen sei zwischen Oktober 2023 und Januar 2024 durch den Cyberangriff auf die Südwestfalen-IT (SIT) „erheblich beeinträchtigt worden“.

Im Kreis Olpe leben 189 ausreisepflichtige Personen. Im Jahr 2023 seien 18 Personen abgeschoben worden, im Jahr 2024 bislang sechs. Eine Statistik über gescheiterte Maßnahmen führe man nicht, heißt es von der Behörde. Neben den Abschiebungen seien auch „freiwillige Ausreisen“ zu verzeichnen, die „auch auf Drängen beziehungsweise Bemühungen der Ausländerbehörde des Kreises Olpe erfolgten“. 2023 seien dies zwölf, im laufenden Jahr bislang fünf Fälle gewesen.

Der Ennepe-Ruhr-Kreis (ohne die Stadt Witten, die ein eigenes Ausländeramt hat) gibt 765 ausreisepflichtige Ausländer an. In diesem Jahr seien Rückführungen nach Österreich, Spanien, Portugal, Rumänien, Kroatien, Litauen, Kosovo und Tunesien geplant gewesen. Von 18 geplanten Abschiebungen seien sechs durchgeführt worden (2023: 13 von 41).

Die Stadt Witten spricht von 238 ausreisepflichtigen Personen. Hauptherkunftsländer: Kosovo, Albanien, Serbien, Syrien, Irak, Libanon. In diesem Jahr seien bisher zehn Abschiebungen und im Jahr zuvor 15 durchgeführt worden, elf Personen konnten in diesem Jahr und 16 im Vorjahr nicht abgeschoben werden.

„Untergetaucht; wohnen ungemeldet bei anderen Familienmitgliedern oder Freunden, die der Ausländerbehörde nicht bekannt sind, Widerstand am Flugtag.“

Der Märkische Kreis
über Gründe für gescheiterte Abschiebungen

Die Stadt Hagen erklärt, dass in ihrem Zuständigkeitsbereich derzeit 397 ausreisepflichtige Personen leben. In diesem Jahr seien bisher acht und im Vorjahr 16 Abschiebungen durchgeführt worden. Man könne nicht mitteilen, wie viele Abschiebungen geplant seien oder wie viele nicht durchgeführt werden konnten, da es sich „immer um Einzelfallprüfungen“ handele, die „regelmäßigen Änderungen“ unterworfen seien.

Der Märkische Kreis gibt 625 ausreisepflichtige Personen an. Hauptherkunftsländer seien Guinea, Marokko, Irak, Libanon, Ägypten, Aserbaidschan, Nigeria. In diesem Jahr seien bisher von 68 geplanten Abschiebungen 29 durchgeführt worden (2023: 42 von 100).

Der Kreis Siegen Wittgenstein (ohne die Stadt Siegen, die eine eigene Ausländerbehörde hat) meldet 447 ausreisepflichtige Personen. Die häufigsten Zielländer (Top 3): Irak, Guinea, Georgien. Im laufenden Jahr seien bislang zwei Personen abgeschoben worden, sieben Maßnahmen seien geplant gewesen. Im Jahr 2023 waren 49 Abschiebungen geplant, 22 Rückführungen wurden durchgeführt.

In der Stadt Siegen leben derzeit 216 ausreisepflichtige Personen. In 2024 sind bisher nach Angaben der Stadt 24 Abschiebungen geplant, zehn seien durchgeführt worden. 2023 waren es 17 von 43, Zielländer: Albanien, Türkei, Georgien, Irak, Syrien, Marokko, Spanien, Nigeria und Aserbaidschan.

Woran scheitern Abschiebungen?

Die Antworten der Kreise und Städte fallen nahezu identisch aus. Immer wieder werden fehlende Ausweisdokumente, familiäre Duldungsgründe, gesundheitliche Einschränkungen oder das Wohnen an anderer Adresse (etwa bei Familienmitgliedern oder Freunden) genannt. Nicht nur der Hochsauerlandkreis sieht als „häufigsten Grund“ für das Scheitern von Abschiebungen, dass „die betroffene Person am Tag des Abschiebungsfluges nicht in ihrer Unterkunft angetroffen werden“ könne. Ein Untertauchen von Zielpersonen kommt laut der Angaben mehrerer Behörden „regelmäßig“ vor. Die Stadt Siegen teilt allerdings mit, dass ein „Nichtantreffen“ der betroffenen Person „nicht der Regelfall“ sei.

Der Kreis Olpe führt als Hindernisse auch „mangelnde Flüge ins Heimatland oder fehlende Kooperation der Behörden des Heimatlandes“ an. Laut Ennepe-Ruhr-Kreis würden Zielstaaten „entgegen vorheriger Mitteilung nachträglich“ erklären, „dass an dem fraglichen Tag keine Personen aufgenommen werden“. Der Kreis Siegen-Wittgenstein (und andere) ergänzt als Grund für das Scheitern von Abschiebungen: „Widerstand am Flughafen“.

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Zudem könne laut Ennepe-Ruhr-Kreis „der beabsichtigte Spurwechsel durch die Absolvierung einer Ausbildung oder einer Beschäftigung“ einen Verbleib im Land ermöglichen. Zu nennen ist auch das Ende 2022 in Kraft getretenen Chancen-Aufenthaltsrecht; zum Beispiel in Hagen betrifft dies aktuell bis zu 421 Personen, die im Rahmen dieses Gesetzes die Voraussetzungen für eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis erwerben könnten – und aus der Statistik der ausreisepflichtigen Personen fallen.

Der Kreis Siegen-Wittgenstein und die Stadt Witten verweisen auf das Kirchenasyl. Dabei nehmen Gemeinden oder Ordensgemeinschaften vorübergehend Asylbewerber auf, um eine Abschiebung abzuwenden. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zählte im vergangenen Jahr 2065 Fälle von Kirchenasyl, wie die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) berichtet. Nach Angaben des Ökumenischen Netzwerks Asyl in der Kirche in NRW e.V. finden rund ein Drittel aller Kirchenasyle in Nordrhein-Westfalen statt, gefolgt von Bayern und Hessen. In Südwestfalen bestätigte im vergangenen Jahr das Bergkloster Bestwig auf Anfrage, mehrfach Kirchenasyl gewährt zu haben.

Funktioniert die Dublin-Regel?

Der mutmaßliche Attentäter von Solingen, ein 26 Jahre alter syrischer Asylbewerber, hätte eigentlich im vergangenen Jahr gemäß der sogenannten Dublin-Regelung nach Bulgarien zurückgeführt werden sollen. Diese EU-Vereinbarung sieht die Rücknahme von Asylbewerbern durch Länder vor, in denen sie zuerst registriert wurden. Für die Überstellung gilt eine Frist von sechs Monaten, die auf 18 Monate verlängert werden kann. Bulgarien soll der Rücknahme des syrischen Terror-Verdächtigen zugestimmt haben, die Überstellung soll jedoch daran gescheitert sein, dass der Mann in seiner Unterkunft in Paderborn nicht angetroffen und danach kein weiterer Abholversuch unternommen worden sei.

„In der Praxis funktionieren die Dublin-Regelungen nur mit einzelnen EU-Ländern.“

Kreis Olpe
über die EU-Vereinbarung

Dem Kreis Olpe zufolge funktioniere die Dublin-Regelung „in der Praxis nur mit einzelnen EU-Ländern“. Zum einen würde die Vereinbarung nicht von allen Staaten eingehalten, zum anderen gingen Verwaltungsgerichte davon aus, dass in anderen EU-Ländern die Lebensbedingungen der Antragsteller während des Asylverfahrens derart schlecht seien, dass Rücküberstellungen nicht zulässig seien und das Asylverfahren in Deutschland zu betreiben sei.

Insbesondere bei Dublin-Fällen komme es im Übrigen vor, dass Abschiebungen scheiterten, weil die betroffene Person nicht aufzufinden sei. „Während der sechsmonatigen Frist entziehen sich betroffene Personen tatsächlich regelmäßig dem Zugriff durch Untertauchen“, erklärt der Kreis Olpe, „sofern dies passiert, recherchieren wir im Rahmen unserer Möglichkeiten den Aufenthalt der Personen und versuchen es erneut, oder aber die Frist wird auf 18 Monate verlängert.“

(mit KNA)

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