Bad Laasphe. Von der Familie getrennt, aber dafür Billardtisch, Reittstall, Ritterrüstung und Kartfahren. Über den Alltag am Schloss Wittgenstein.
Lange überlegen muss Marlen nicht. Sie schüttelt den Kopf. „Ich wollte nicht hierher“, erinnert sich die 16-Jährige, beigefarbenes Wohlfühl-T-Shirt, gescheiteltes dunkles Haar, Brille, Handy in der Hand. Sie sitzt mit ihrer Freundin Amalia im Eingangsbereich des Ortes, der seit drei Jahren ihr Zuhause ist: Internat Schloss Wittgenstein, das einzige klassische Internat in Südwestfalen, hoch oben über den Dächern von Bad Laasphe (14.000 Einwohner). Der letzte Bus fährt am Berg um 17.30 Uhr.
Wie ist das Leben dort so? Ortstermin in einer etwas anderen Schulwelt. Eine, die zuletzt stärker nachgefragt wird. Eine, die hier 2100 Euro im Monat kostet – mindestens.
Marlen: Mit 13 Jahren ins Internat
Corona, sagt Marlen, war Marlens Problem. An ihrer alten Schule in Bad Arolsen, etwa 100 Kilometer von Bad Laasphe entfernt, habe kaum mehr Unterricht stattgefunden, nicht einmal in Distanz. Ihre Noten wurden schlechter, ihre Motivation geringer. „Meine Eltern waren beide viel arbeiten“, erzählt sie, als sich neben ihr die Glastür öffnet: eine Handvoll chinesischer Schülerinnen und Schüler lärmen fröhlich herein. Umarmungen. Sie befinden sich derzeit ebenso auf dem Schloss wie amerikanische Austauschschüler. Marlens Eltern, sagt sie, hätten dann jedenfalls das Internat vorgeschlagen. Mit 13 zog sie ein.
„ „Oft kommen Eltern mit ihren Kindern her, die schulisch oder im sozialen Umfeld Probleme haben. Die Eltern selbst können sich nicht im nötigen Maße kümmern, weil sie beruflich eingespannt sind.““
So sei das oft, sagt Ludwig Lenhard (35), ein junger Mann, der das Haar zum Zopf gebunden hat. Seit sechs Jahren ist er Leiter des Internats. „Oft kommen Eltern mit ihren Kindern her, die schulisch oder im sozialen Umfeld Probleme haben. Die Eltern selbst können sich nicht im nötigen Maße kümmern, weil sie beruflich eingespannt sind“, sagt Lenhard. Es sei schließlich nur eine bestimmte Klientel, die sich ein Internat leisten könne.
Dabei liegt das Schloss Wittgenstein noch im mittleren Preissegment der Internate. Deutschlands größtes und wohl renommiertestes Internat, Schloss Salem am Bodensee, kostet Eltern fast 4000 Euro im Monat. Elite-Internat wird es genannt. Bad Laasphe versprüht einen bodenständigeren Charme.
„Wie war‘s?“, fragt Lenhard zwei Schüler nach ihrem Schultag, die vor dem Schloss in einer Mischung aus angestrebter Coolness und echter Gelangweiltheit an ihm vorbeitrotten, wie es nur Jungs in dem Alter können. „Gut“, sagt der eine im Vorbeigehen und lächelt. Ende der Unterhaltung. Warum sollten pubertierende Jungs hier auch gesprächiger sein als anderswo? Aber irgendwann haben sie halt doch Redebedarf. Gerade weil die Familie weit weg ist. „Wir wissen manchmal mehr über die Kinder, als es die Eltern tun“, sagt Lenhard.
Internate: Zahlen sind Mangelware
Statistiken über Internate und deren Schülerinnen und Schüler sind Mangelware. Weder das Statistische Bundesamt, noch die Kultusministerkonferenz, noch der Verband der Deutscher Privatschulverbände, noch die Landesjugendämter können verlässliche Aussagen machen. Grund: Die verschiedenen Internatsformen lassen sich schwer in Statistiken erfassen.
So gibt es Internate, die die reine Unterbringung vorsehen, aber nicht an eine spezielle Schule gekoppelt sind. Zudem gibt es heil- und sonderpädagogische Internate sowie Sport-Internate wie jenes in Winterberg, an dem hoffnungsvolle Talente des Wintersports aufgenommen werden. Auch in Iserlohn beim Profi-Eishockeyklub Iserlohn Roosters gibt es mit der sogenannten Academy eine Art Internat für Talente. Klassische Internate wie jenes in Bad Laasphe finden sich in der Nähe von Südwestfalen noch in Hamm (Schloss Heessen) und Velbert (Villa Wewersbusch).
Das Statistische Bundesamt errechnete Ende 2023, dass der Anteil der Privatschülerinnen und -schüler binnen 20 Jahren von sechs auf neun Prozent gestiegen sei. Durchschnittlich gäben Eltern pro Monat 2030 Euro pro Jahr für den privaten Schulplatz aus - wobei nicht jede private Schule ein Internat ist. „Die Nachfrage nach Internaten ist in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen“, sagt Ellen Jacob, Bundesgeschäftsführerin beim Verband Deutscher Privatschulverbände (VDP).
Die Kinder wohnen in einer großen WG in den Etagen oberhalb der Klassenzimmer: Die Realschule und das Gymnasium (zusammen 800 Schülerinnen und Schüler) sind privat, aber öffentlich anerkannt. Bedeutet: Für das Personal und die Ausstattung sorgt das Internat, besucht werden die öffentlich bezuschussten Schulen aber in großer Mehrheit von den Kindern und Jugendlichen, die nicht im Internat leben.
In der WG gibt es einen Jungsflur und einen Mädchenflur, von denen jeweils Zweierzimmer abgehen. Luke aus Hameln teilt sich ein Zimmer mit Tim von der Nordseeinsel Norderney: Jeder hat ein Bett in frischer Holzoptik, einen Schreibtisch in Holzoptik, dazu einen Sessel und ein Tischchen in Holzoptik. Grüne Vorhänge könnten die große Fensterfront verdunkeln.
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Luke (16), ein Riese, in dessen Hand der Stift wie ein Zahnstocher wirkt, ist neu im Internat. Er hatte gerade seinen ersten Schultag in Bad Laasphe, will den Realschulabschluss schaffen. Wie war es? „Gut.“ Aufregend alles? „Nö, ich bin nie aufgeregt.“ Ist es schwer, von Familie und Freunden getrennt zu sein? „Natürlich bin ich gern bei meiner Familie. Aber meine Zukunft ist im Moment wichtiger.“ Eine Pflanze ziert seinen Tisch. Gleich muss er noch Geodreieck und Zirkel bestellen.
Wer will, kann sein Pferd mitbringen: Das Schloss hat Stallungen und eine Reitlehrerin
Eine Playstation steht auf Tims (15) Schreibtisch, an der Wand hängen Poster von einem sündhaft teuren Mercedes-Geländewagen, von einem vermutlich noch teureren Porsche und die Umrisse der Formel-1-Rennstrecken am Nürburgring und in Spa-Francorchamps in Belgien. Mit der Heimat Norderney ist er aber nicht der größte Exot. Ein Mädchen kommt aus der Nähe von Mailand. Wer will, kann übrigens sein Pferd mitbringen. Das Schloss verfügt über Stallungen und eine Reitlehrerin. Die jüngste der derzeit 44 Internatsschülerinnen und -schüler ist gerade elf Jahre alt geworden.
Zwischen dem Jungen- und dem Mädchenflur liegt ein Wohnzimmer mit Fernseher und Couch, auf der Pikachu, das Pokemonstofftier, sitzt. Im Bistro liegt Obst bereit, es gibt einen Raum mit Billardtisch, einen Kicker, einen Fitnessraum. Gegessen wird im Gewölbekeller des Schlosses, in dem ein Hirschgeweih an der meterdicken Wand hängt. Zwischen Internat und Schloss liegen zwei-, dreihundert Meter.
Amalia (17) kommt aus dem 40 Kilometer entfernten Haiger. Seit einem Jahr ist sie im Internat. Sie hatte Probleme mit Mobbing, sie war auf unterschiedlichen Schulen in unterschiedlichen Klassen. Erst in Bad Laasphe habe das aufgehört, sagt sie. „Ich fand die Idee meiner Eltern gut.“ Das heißt nicht, dass es leicht war. „Das Internat ist eine große Umstellung. Am Anfang ist es schwer ohne Eltern, ich hatte Heimweh. Aber man gewöhnt sich daran.“ Kurze Pause. „Es war die beste Entscheidung, die meine Eltern und ich treffen konnten.“
Nach der Schule ist eine Hausaufgabenbetreuung vorgesehen, zweimal in der Woche existiert die Möglichkeit für Nachhilfe. Dazu bietet das Internat E-Bike-Ausflüge, Badminton-, Schach- oder andere AGs an. Jedes Wochenende können die Kinder nach Hause, jedes zweite Wochenende gibt‘s samstags Programm vom Internat. Zuletzt: Kartfahren. Abschalten von der Schule, auf der der Fokus sonst jeden Tag liegt. Die meisten fahren nicht jedes Wochenende nach Hause.
Im Erdgeschoss des Schlosses, wo die Verwaltung sitzt, steht eine alte Kutsche im Flur, eine Etage höher eine alte Ritterrüstung. Dort hat Gordon Kämmerling sein Büro. Er ist der Geschäftsführer der Schloss Wittgenstein GmbH. Sein Opa war einst auf der Suche nach einem Internat für Kämmerlings Vater. Weil er keines fand, gründete er gleich selbst eines. 1954 war das. „Macher-Typ“, sagt Kämmerling und lächelt aus einem weißen Hemd mit Krawatte.
„Bei dem Wort Internat hat jeder gleich bestimmte Assoziationen. ,Hanni und Nanni‘ und ,TKKG‘ wahrscheinlich. Aber auch: Probleme zu Hause“, sagt Kämmerling. „Die Realität beinhaltet oft von allem etwas. Unser Plus ist die große Nähe zwischen Schule und Internat. Wenn Probleme auftauchen, werden die sofort besprochen und angegangen.“
„„Es gibt kein Erfolgsversprechen. Wenn das Zusammenspiel zwischen Eltern, Kind und Internat nicht funktioniert, wird es schwer.““
Kinder von Prominenten aus Show und Musik seien schon auf das Schloss Wittgenstein gegangen, sagt er. Namen dürfe er nicht nennen. „Die Nachfrage nach Plätzen im Internat steigt in den vergangenen Jahren spürbar“, sagt Kämmerling und fügt an: „Es gibt kein Erfolgsversprechen. Wenn das Zusammenspiel zwischen Eltern, Kind und Internat nicht funktioniert, wird es schwer.“
Wer nicht aufräumt, muss Taschengeldkürzungen fürchten
Marlen, das Mädchen aus Bad Arolsen, das zunächst nicht ins Internat wollte, gab der Sache eine Chance. „In der Probewoche habe ich gleich Anschluss und Freunde gefunden“, sagt sie. Sie stimmte zu, absolvierte die Realschule und geht seit wenigen Tagen auf das Gymnasium nebenan. Eine Bilderbuchkarriere am Internat, findet Kämmerling.
„Ich musste hier schnell selbstständig werden“, sagt Marlen. Disziplin ist wichtig. Immer früh aufstehen. Das Zimmer muss immer ordentlich sein. Liegt Kleidung herum oder sind Essensreste nicht weggeräumt, kann das im Wiederholungsfall zu Kürzungen beim Taschengeld führen. 25 Euro kriegt sie vom Internat pro Woche. „Das Internat hat mir und meinen Noten gutgetan.“ Kurze Pause. „Und mein Papa ist auch entspannter, weil er sieht, dass ich weiterkomme.“
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