Bad Laasphe. Um das Schloss Wittgenstein rankt sich die Sage einer jungen Gräfin, die ihren Tod voraussah. Eine Nacht im Schloss als Selbstversuch.
Die Kälte kriecht an den Beinen hoch. Ich taste mich vorsichtig am Geländer entlang, meine Füße tappen blind in der Dunkelheit umher. Offensichtlich ist die Glühbirne am Eingang durchgebrannt. Im Busch raschelt etwas. Bestimmt nur ein Eichhörnchen oder ein Vogel. Dann setzt aber plötzlich ein Rattern ein – und wird lauter. Es kommt näher. Was ist das? Mein Herz schlägt spürbar schneller als ich in der Jackentasche nach meinem Handy krame. Ich drücke auf die Taschenlampen-App und leuchte in die Richtung des Geräuschs. Da, auf dem Boden! Ich muss kurz auflachen – es ist nur der Mähroboter. Erleichtert drehe ich mich um und leuchte die Treppen zum Seiteneingang hinauf. Ich schließe die schwere Tür auf, die sich mit einem Quietschen öffnet und schließlich mit einem Donnern zurück ins Schloss fällt. Ich steige die Wendeltreppe hinauf, bis in den zweiten Stock zum Kammerzimmer. Hier werde ich heute übernachten – und hoffentlich später gut schlafen können.
Der Perspektivenwechsel
Eine Nacht im Schloss sein, durch die dunklen Gänge streifen und das Jahrhunderte alte Anwesen mal aus einer ganz anderen Perspektive kennenlernen: Im Schloss Wittgenstein ist das möglich. Wo im 12. Jahrhundert noch Ritter ihren Unterschlupf in den felsigen Mauern fanden, die Kammerzofen der Prinzessinnen im 18. Jahrhundert ihre Zimmer hatten, können heute Besucher übernachten. Für viele ein romantischer Gedanke; mit Blick auf die Geschichte für Zartbesaitete aber durchaus auch unheimlich. Zumal man als Übernachtungsgast erst mal an dem Kerker vorbei muss, in dem früher Menschen gefoltert und hingerichtet wurden.
Die Sage
„Viel Spaß an der Lust am Gruseln!“, schreibt Gordon Kämmerling vom Institut Schloss Wittgenstein auf die Empfangskarte, die ich auf meinem Schreibtisch im Hotelzimmer vorfinde. Daneben hat er ein Buch mit rotem Einband gelegt: „Sagen und Märchen aus den Wittgensteiner Bergen“. Darin eine Klebenotiz, Seite 78: „Todesahnungen“. „Das fängt ja gut an“, denke ich und beginne zu lesen.
„Vor mehr als dreihundert Jahren lebte auf Schloß Wittgenstein eine junge Gräfin von siebzehn Jahren mit dem Namen Elisabeth Charlotte...“ Eines Tages erlebte sie eine Erscheinung, die ihr den Tag – sogar die Stunde – ihres eigenen Todes voraussagte. Glauben wollte ihr das natürlich keiner. Als das Datum ihres Todestages jedoch immer näher rückte, nahm Elisabeth Charlotte nach und nach Abschied von Familie und Freunden und bat sie um Vergebung. Als eines Tages Schlossgäste wieder abreisen wollten, begleitete die junge Gräfin diese Gäste den Schlossberg hinunter. Über Nacht war viel Schnee gefallen und deswegen entschied man sich für eine Pferdeschlittenfahrt. Noch bevor sie losfuhren, wandte sich die Gräfin einem Gast zu und sagte, dass er zu dem Zeitpunkt ihres Todes auf seine Taschenuhr schauen solle – diese werde dann nämlich stehenbleiben. Der Gast nahm diese Äußerung nicht allzu ernst. Doch als die Kolonne wenige Minuten später am Dillstein den Wald verließ, schlug das Pferd im Schlitten plötzlich nach hinten aus und traf die junge Gräfin derart fest an der Schläfe, dass sie lautlos tot zu Boden fiel. Entsetzt riss der Gast seine Taschenuhr hervor: Sie stand still...
Das aufflackernde Licht
„Nur ein Märchen“, denke ich mir. Wobei Elisabeth Charlotte tatsächlich im Schloss gelebt hat; und auch im Jahr 1662 im frühen Alter von 17 Jahren gestorben ist. „Die Legende besagt, dass an ihrem Todestag irgendwo im Schloss unerklärlicherweise ein Licht in einem Zimmer angeht“, gab mir Kämmerling vor meiner Übernachtung noch mit auf dem Weg. Heute ist zwar nicht ihr Todestag – zumindest gehe ich davon einfach mal aus –, aber ich halte trotzdem mal Ausschau.
Die Stille
Gegenüber der Tür meines Hotelzimmers befindet sich ein Fenster, das den Blick auf den Rosengarten freigibt. Ein auf dem Dach angebrachtes Flutlicht strahlt die Turmuhr an – sie ist stehengeblieben. Um 0 Uhr. Mitternacht. Geisterstunde. „Das hat doch Herr Kämmerling extra gemacht“, denke ich mir und muss grinsen. Ich steige die Wendeltreppe hinab, eine Etage tiefer, und laufe den schummrig beleuchteten Gang neben der Kapelle entlang. Stille. Wenn ich mich konzentriere, kann ich das Rauschen der Heizungsrohre hören. Sonst: nichts. Ich merke, mich diese absolute Ruhe und diese Dunkelheit in einer mir fremden Umgebung mich vorsichtig werden lassen. So, als ob ich mich in Acht nehmen müsste. Vor was auch immer. Vor wem auch immer.
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Ich fühle mich unwohl und renne fast die Stufen hoch zu meinem Zimmer. Ich schließe die Tür ab, reiße das Fenster auf und kuschele mich unter die Bettdecke. Kalte Luft strömt herein, unten auf dem Rasen höre ich wieder das vertraute Rattern. Jetzt weiß ich ja, dass es nur der Mähroboter ist. Dann stoppt er plötzlich. Und sie ist wieder da. Diese unheimliche Stille.