Lüdenscheid. Ein Jugendbetreuer im Sauerland soll fast 40 Jahre lang Jugendliche missbraucht haben. Betroffene kritisieren die Aufarbeitung scharf.

Für Michael Bauer war der ehrenamtliche Jugendbetreuer im Sauerland wie ein großer Bruder. Damals ein Mann von Anfang/Mitte 20, mit dem man habe Pferde stehlen können. Aber auch einer, der sich mit Mitgliedern der Jugendgruppe im Schwimmbad traf und bei „Fangspielen“ im Wasser deren Körper ausgiebig abtastete. Das gemeinsame hüllenlose Duschen anschließend gehörte wie selbstverständlich dazu.

Andere Jugendliche berichteten später von sexuellen Übergriffen bei Heimfahrten nach Gruppenstunden oder Einladungen zu vermeintlich gemeinschaftlichen Saunabesuchen, die sich dann als Falle entpuppten.

Betroffene hatten sich an die Landeskirche gewandt

Vor vier Jahren kam das dunkle Geheimnis des Jugendbetreuers der Kirchengemeinde Brügge-Lösenbach in Lüdenscheid an die Öffentlichkeit. Damals hatten sich fünf Betroffene an die Beauftragte der Evangelischen Kirche von Westfalen für den Umgang mit Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung gewandt. Die Hoffnung auf eine „schonungs- und lückenlose Aufklärung“ der Vorgänge um den Jugendbetreuer, der nach Bekanntwerden des Missbrauchsverdachts Suizid begangen hatte, erfüllten sich Bauer zufolge nicht: „Bei der Aufarbeitung hat die Kirche komplett versagt. Es ist all die Jahre nichts Nennenswertes passiert.“

Mehr noch: Bei der Vorstellung der ForuM-Substudie „Aufarbeitung vor Ort“ bei der Evangelischen Landeskirche von Westfalen im vergangenen März wurde nicht nur bekannt, dass der Jugendbetreuer über einen Zeitraum von fast 40 Jahren mehr als 20 Jugendlichen sexualisierte Gewalt angetan haben soll (darunter auch Michael Bauer). Sondern auch: „Erst da wurde uns das ganze Ausmaß des Missbrauchs bekannt“, sagt Bauer, „und es wurde klar, dass es sehr viele Möglichkeiten gab, ihn zu stoppen.“

An den späten Nachmittag des 19. März 2024 erinnert sich Michael Bauer noch so, als sei es gestern gewesen. Er verfolgte die Präsentation per Videokonferenz: „Ich war total geschockt, musste mit den Tränen kämpfen“, sagt der gebürtige Sauerländer, den eigentlich so schnell nichts umhauen kann. Bauer heißt in Wirklichkeit anders. Aus Angst vor Repressalien und Gerede möchte er seinen Namen nicht veröffentlicht haben.

Studie: „Langzeittäter in der Jugendarbeit“

Die Autoren der Substudie sprachen von einem „Langzeittäter in der Jugendarbeit, der beinahe 40 Jahre ungehindert agieren konnte“. Der Gemeinde im Kirchenkreis Lüdenscheid-Plettenberg warfen die Studienmacher „ungenutzte Aufdeckungspotenziale“ und schwere Versäumnisse bei der Aufarbeitung vor.

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Rolle von Seelsorgern wird geprüft

Vor vier Monaten kam Bauer zufolge auch zur Sprache, dass „eine Reihe von Geistlichen und Mitgliedern der Kirchengemeinde“ von den Grenzüberschreitungen des Jugendbetreuers gewusst haben müssen und nicht eingeschritten seien. Bitter sei, so Bauer weiter, dass es in den Jahren zuvor Videokonferenzen mit Kirchenvertretern und Betroffenen gegeben habe: „Uns wurde gesagt, dass man aus rechtlichen Gründen nicht ins Detail gehen könne. Erstaunlich, dass das auf einmal ging. Uns wurden also über einen längeren Zeitraum wichtige Informationen vorenthalten.“

Zum Beispiel über die Rolle von Geistlichen: „Unerträglich ist der Gedanke“, sagt Bauer, „dass Seelsorger, die von seinen Verfehlungen wussten, weiter im Kirchendienst arbeiteten. Womöglich sogar bis heute.“ Sie hätten einfach weitermachen können, so als sei nichts gewesen. „Auch das hindert Betroffene, mit der Sache abzuschließen.“

„Seit jetzt vier Jahren wird uns gegenüber immer wieder beteuert, dass man uns ernst nimmt. Ich habe den Glauben an diese Worte verloren.“

Ein Betroffener

Zumal die formalen Disziplinarverfahren gegen „vormals in der Gemeinde“ tätige Pfarrer, so Wolfram Scharenberg vom Landeskirchenamt der Evangelischen Kirche von Westfalen, „auch nach externer juristischer Überprüfung, eingestellt werden“ mussten.

Jetzt aber würde „die Sachlage erneut einer weiteren juristischen Prüfung unterzogen“. Dazu beauftrage man einen unabhängigen Strafrechtler sowie einen „weiteren, externen Gutachter.“

Kirchensprecher: „Aufklärung mit Nachdruck“

Michael Bauer bleibt skeptisch. „Ich bin frustriert“, sagt er, „es bewegt sich nichts. Seit jetzt vier Jahren wird beteuert, dass man uns ernst nimmt. Ich habe den Glauben an diese Worte verloren, habe keine Hoffnung mehr, dass die Kirche an einer ehrlichen Aufarbeitung - von neutraler Stelle - interessiert ist.“

Landeskirchensprecher Scharenberg dagegen betont: „Bis zum heutigen Tag sind erhebliche Bemühungen und Kapazitäten in die Befassung mit dem Fall eingeflossen, der weiterhin mit Nachdruck – strukturiert und unter Einbeziehung unabhängiger Expertise – verfolgt wird.“

Kommission soll Vorgänge aufklären

Nach seinen Worten soll „spätestens im März 2025“ in der Region Rheinland-Westfalen-Lippe die „Unabhängige Regionale Aufarbeitungskommission (URAK) ihre Arbeit aufnehmen und sich auch mit dem Lüdenscheider Fall befassen. Michael Bauer stellt dies nicht zufrieden: „Dann sind fünf Jahre vergangen, nachdem sich Betroffene erstmals an die Beauftragte der Landeskirche gewandt hatten. Warum bloß dauert das alles so lange? Man hält uns mit Ankündigungen doch nur hin.“

Genauso sieht es auch Jürgen Schäfer (der Name wurde ebenfalls geändert), ebenfalls ein Betroffener: „Uns wurde immer wieder von Vertretern der Landeskirche und des Kirchenkreises gesagt, dass man alles Menschenmögliche für die Aufklärung tun werde. Das waren lediglich Lippenbekenntnisse, wie wir heute wissen. Die im März vorgestellte Substudie hat inhaltlich unsere schlimmsten Befürchtungen übertroffen. Es gab Mitwisser, die den Jugendbetreuer nicht gestoppt haben.“

Persönlicher Austausch in der Zwischenzeit

Laut Schäfer waren es Betroffene und nicht etwa Kirchenvertreter, die in den vergangenen Jahren andere Jugendbetreuer und Funktionäre kontaktierten und nach dem Mann fragten, nachdem der Verdacht bekannt wurde: „Die wunderten sich, dass sie in der ganzen Zeit nicht befragt wurden.“

Nach der Vorstellung der Substudie im März hätten Betroffene Vertreter der Landeskirche und des Kirchenkreises zu einem persönlichen Austausch gedrängt, erzählt Schäfer weiter. Bislang habe es zwei entsprechende Videokonferenzen gegeben: Aber: „Ich hatte leider den Eindruck, dass es den Kirchenvertretern in erster Linie darum ging, die Studie in Misskredit zu bringen.“

Finanzielle Leistungen beantragen

Was die Betroffenen im Lüdenscheider Fall ebenfalls umtreibt: die Möglichkeit, „finanzielle Anerkennungsleistungen“ zu beantragen. Das seien keine „Entschädigungsleistungen“, betont Landeskirchensprecher Scharenberg, sondern „Leistungen in Anerkennung erlittenen Leids“.

Zuständig sei eine Unabhängige Kommission beim Diakonischen Werk Rheinland-Westfalen-Lippe. Die Landeskirche habe keine Kenntnis „über die antragstellenden Personen“. Man gehe aber davon aus, dass bereits Betroffene Leistungen erhalten haben: „Wann und in welcher Höhe dies erfolgt ist, entzieht sich unserer Kenntnis.“

„Kirche darf sich nicht aus der Verantwortung stehlen“

Michael Bauer und Jürgen Schäfer wissen noch nicht, ob sie einen Antrag stellen werden. Sie werden von Zweifeln zerrissen: „Zum einen weiß ich nicht, was es mit mir macht, wenn ich eine Zahlung erhalten“, sagt Bauer, „man kann doch nicht mit Geld aufwiegen, wenn man ein Leben lang unter einem Missbrauch leidet.“ Auf der anderen Seite, ergänzt Schäfer, „darf sich die Kirche nicht aus der Verantwortung stehlen. Die haben uns jahrelang hingehalten. Wenn die schon nicht aufklären wollen, sollen sie es wenigstens finanziell merken.“

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Was Betroffenen ebenfalls zu denken gibt: Daniela Fricke, Beauftragte für den Umgang mit Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung bei der Ev. Kirche von Westfalen und erste Ansprechperson für Betroffene im Lüdenscheider Missbrauchsfall, übernimmt als Militärseelsorgerin eine neue Aufgabe. „Sie hat sich in einer Mail von uns verabschiedet“, sagt Jürgen Schäfer, „über eine Nachfolge wissen wir leider nichts. Hat das Thema womöglich keine Priorität?“ Landeskirchensprecher Scharenberg dazu: „Selbstverständlich wird die Arbeit der Ansprechstelle für Betroffene in anderer personeller Besetzung weitergeführt.“