Lüdenscheid. Studie zu Fall im Sauerland zeigt: Vielfach wurden Hilferufe von der evangelischen Kirche ignoriert. Wie bitter Betroffene reagieren.

  • Studie: Ehrenamtlicher Jugendbetreuer in einer evangelischen Kirchengemeinde im Sauerland missbrauchte über Jahrzehnte Jugendliche
  • Experten kritisieren Verantwortliche scharf: „Ungenutzte Aufdeckungspotenziale“
  • Betroffene zeigen sich von Ergebnissen schockiert: „Wir sind sprachlos“!

Auf der Internetseite der Kirchengemeinde Lüdenscheid-Brügge erscheint aktuell ein Bibelspruch aus dem Römerbrief 14:13: „Lasst uns nun nicht mehr einander richten, sondern haltet vielmehr das für recht, dem Bruder keinen Anstoß oder keinen Fallstrick zu bieten!“

Es scheint leichter gesagt als getan angesichts der Dimensionen des Falls des ehrenamtlichen Jugendbetreuers in der Gemeinde, der „beinahe 40 Jahre“ sexualisierte Gewalt an mehr als 20 Jugendlichen verübt haben soll. Vor allem vor dem Hintergrund der Frage, wie die Übergriffe des Sauerländers über eine solch lange Zeit unentdeckt blieben.

„Langzeittäter in der Jugendarbeit“

Beinahe 40 Jahre: Dieser Zeitraum wurde am Donnerstag bei der Vorstellung der wissenschaftlichen Untersuchung der „Aufarbeitung vor Ort“ in den Räumen der Evangelischen Kirche von Westfalen in Bielefeld genannt. Die Autoren der Substudie der von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in Auftrag gegebenen ForuM-Studie „Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland“ sprechen von einem „Langzeittäter in der Jugendarbeit“.

Der Beschuldigte konnte beinahe 40 Jahre ungehindert agieren.
Helga Dill - Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP)

Sie werfen der Kirchengemeinde im evangelischen Kirchenkreis Lüdenscheid-Plettenberg „ungenutzte Aufdeckungspotenziale“ und schwere Versäumnisse bei der Aufarbeitung vor: „Der Beschuldigte konnte beinahe 40 Jahre ungehindert agieren“, so Helga Dill vom Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) in München.

Beispiel: Ein Begleiter bei der Ferienfreizeit in Schweden habe dem Camp-Leiter von sexuellen Übergriffen durch den Beschuldigten berichtet. Diese Information sei nicht an die Gemeindeleitung weitergegeben worden. Bei einer Bootstour auf der Freizeit habe ein Betroffener dem anwesenden Pastor von Übergriffen erzählt - der habe das Ganze abgewiegelt.

Vorwürfe ignoriert

Im Jahr 2012 seien, so Sozialwissenschaftlerin Helga Dill weiter, in einer E-Mail an Mitglieder des Presbyteriums, des Leitungsgremiums der Kirchengemeinde, Vorwürfe gegen den Jugendbetreuer erhoben worden: „Sie wurden ignoriert.“

Zudem habe es „unterschiedliche Meldeversuche“ gegenüber Gemeindepastoren gegeben. Reaktion: Fehlanzeige. „Interventionsversuche von Mitarbeitenden in der Gemeinde wurden ebenfalls abgewehrt“, so die Autorin der Studie. Und: „Es gab mit Blick auf den Beschuldigten Gerüchte in der Gemeinde.“ Passiert sei aber nichts: „Das war eine klare Mitwisserschaft.“

Persönliche Beziehungen

Ihre Kollegin Sabine Wallner schilderte „Verstrickungen in der Gemeinde“: Der Jugendbetreuer, auch Mitglied des Presbyteriums, habe über die Jahre persönliche Beziehungen zu den Pastoren und anderen Verantwortungsträgern in der Gemeinde geführt. Und letztlich habe sich nach Bekanntwerden der Vorwürfe ein „Schutzreflex“ gezeigt, der eine „ernstzunehmende Aufklärung“ verhindert habe: „Man wollte die eigene Position und die eigene Institution schützen.“

Im Sommer 2020 hatten sich Betroffene an die Beauftragte für den Umgang mit Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmungen bei der Landeskirche in Bielefeld gewandt. Als Vorwürfe gegen ihn öffentlich wurden, nahm sich der alleinstehende Jugendbetreuer das Leben.

Externe Berater nötig

„Machtstrukturen enden nicht, wenn eine Person nicht mehr dabei ist“, resümiert Sabine Wallner, „Verstrickungen und Versagen wirken in die Gegenwart hinein. Interne Aufarbeitung wird dadurch schwer bis unmöglich.“ Fazit: Der eingerichtete Krisenstab mit Vertretern aus Kirchengemeinde, Kirchenkreis und Landeskirche, später Interventionsteam genannt, wäre gut beraten gewesen, sich externe, also unabhängige Berater ins Boot zu holen.

So blieb es mit Blick auf Aufarbeitung und Aufklärung bei „Lippenbekenntnissen“, wie es drei Betroffene, mit der die Westfalenpost gesprochen hat, formulieren. Dabei hatte der Evangelische Kirchenkreis Lüdenscheid-Plettenberg in einer Medieninformation im September 2021 verkündet, dass man die „Geschehnisse lückenlos“ aufklären wolle.

Frust und Resignation

Jetzt, zweieinhalb Jahre später, sind bei Betroffenen aus der Hoffnung auf intensive Aufarbeitung tiefe Enttäuschung, Frust und Resignation geworden: „Uns wurde radikale Aufklärung versprochen. Wir haben eher den Eindruck, dass kirchenintern der Grundsatz galt: ,Die eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus‘“, so die Betroffenen gegenüber der Westfalenpost.

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Die drei Betroffenen sprechen von einer „Doppelmoral“ innerhalb der evangelischen Kirche: „Man kann nicht Nächstenliebe als christlichen Wert von den Gläubigen einfordern und lässt gleichzeitig einen ehrenamtlichen Mitarbeiter über drei Jahrzehnte ungestört Übergriffe verüben – und ist anschließend nicht in der Lage, schonungslose Aufklärung zu betreiben.“

Zwei Betroffene zeigten sich nach der Vorstellung der Substudie, die im Internet unter www.ipp-muenchen.de veröffentlicht ist, im Gespräch mit der Westfalenpost „schockiert über die Dimensionen des Falls und das Ausmaß der Vertuschungen: Dass es so viele Hinweise auf Verfehlungen des Mannes gab und er nicht gestoppt wurde, macht uns fassungslos.“

„Schonungslose Analyse“

Sie loben, dass die Wissenschaftler die Untätigkeit und die mangelhafte Aufarbeitung in der Kirchengemeinde „schonungslos“ angesprochen hätten. Gleichzeitig kritisieren sie, dass das Interventionsteam bei Videokonferenzen ihnen gegenüber „nur ganz vage Andeutungen“ gemacht hätte. „Wir als Betroffene haben ein Recht auf die volle Wahrheit.“

Wenn wir heute hören, wie konkret Pastoren und andere Verantwortungsträger der Gemeinde mit Vorwürfen gegenüber dem Jugendbetreuer konfrontiert wurden, sind wir einfach nur sprachlos.
Betroffener des Missbrauchs durch einen Jugendbetreuer

Ebenso sehen die Betroffenen die Landeskirche in der Pflicht. Sie erinnern daran, dass zwei Disziplinarverfahren gegen Pastoren eröffnet wurden, die während der Tätigkeit des Jugendbetreuers im Amt waren. Die Verfahren wegen Verdachts auf Amtspflichtverletzungen wurden von Seiten der Evangelischen Kirche von Westfalen eingestellt. „Wenn wir heute hören, wie konkret Pastoren und andere Verantwortungsträger der Gemeinde mit Vorwürfen gegenüber dem Jugendbetreuer konfrontiert wurden, sind wir einfach nur sprachlos.“

Pfarrer geht

Am Abend vor der Präsentation der Substudie in Bielefeld meldete der Kirchenkreis Lüdenscheid-Plettenberg, dass Pfarrer Simon Schupetta die Kirchengemeinde Brügge-Lösenbach zum 1. August 2024 verlässt. „Die Gemengelage der letzten Jahre haben mich dazu bewogen, über meine Zukunft vor Ort intensiv nachzudenken“, wurde der 37 Jahre alte Westfale zitiert. Er war sechs Jahre in Lüdenscheid und wechselt als Pfarrer vom Sauerland nach Ostfriesland.